In der Praxis des Religionsunter­richts tun sich insbesondere Anfängerinnen einerseits mit der Didaktisierung komplexer theologischer Grundfragen schwer, anderer­seits aber auch damit, auf unerwartete Ein­würfe von Schülern angemessen zu reagie­ren oder aber ihre Tragweite überhaupt zu erkennen. Der Hinweis auf die zunehmende Erfahrung und Flexibilität, die sich mit der Praxis einstellte, muss dabei unbefriedigend bleiben.
Beide Schwierigkeiten haben m.E. gleiche Ursachen. Da ist einerseits der Erwartungs­druck, als Lehrer oder Lehrerin »etwas Richtiges« – entweder i.S. kirchlicher Lehre oder eines Zufriedenstellens der Fragenden – parat haben zu müssen, aber auch der Um­stand, dass die Direktheit und der Ernst schwer auszuhalten sind. Wenn wir uns sol­chen Fragen stellen, dann konfrontieren wir uns mit unserer eigenen Begrenztheit und Angst und damit, wie sehr wir selbst noch Kind sind, ohne es uns zuzugestehen.

Wie »grosse Fragen« zum Thema werden

Fragt man Jugendliche und junge Erwachse­ne nach Themen, die sie gerne besprechen würden, dann werden häufig Tod, meist mit der Zuspitzung auf Gibt es ein Leben nach dem Tod?, oder Okkultismus und Lässt Gott Lei­den zu? genannt. Entsprechende Unter­richtsversuche verlaufen häufig deshalb nicht ganz befriedigend, weil sie letztend­lich auf einer intellektuell-theologischen, vielleicht noch auf einer religionsverglei­chenden Ebene abgehandelt werden. Bevor die Fragen in ihrer Vieldimensionalität ge­klärt werden, werden schon Antworten bear­beitet. Offen aber bleiben die eigentlichen Beweggründe für solche Themen und die existenzielle Betroffenheit. Als eine grundlegende Dimension »grosser Fragen« sehe ich etwas an, was ich hier »Be­ziehungsqualität« nennen möchte. Die Fä­higkeit der Religionslehrerin, des Religions­lehrers, diese aufzuspüren, ist massgeblich für eine gelingende Kommunikation im Re­ligionsunterricht.
Wonach fragt ein Kind, wenn es darum geht, wo die verstorbene Oma jetzt ist? Es fragt nach der Beziehung, nämlich: Wie gehe ich mit dem Verlust um? Wie darf ich trauern? Wie viel ist das gemeinsam Erlebte wert? Kann ich die Verbindung aufrechterhalten? etc.
Was bedeutet es, wenn Jugendliche etwa nach dem Sinn des Lebens fragen? Hat es mit Perspektivlosigkeit zu tun, mit familiä­ren Problemen, mit starken Gefühlserlebnis­sen, mit Krankheit und Tod eines Gleichalt­rigen? Was ist es genau, was an dieser Frage interessiert?
Eine angemessene Reaktion auf solche Fra­gen muss innerhalb dieses Beziehungskon­textes geschehen und besteht nicht immer in einer »Antwort«, sondern zuerst einmal im Verstehen und Nachfragen, und das bedeutet im Ernstnehmen und Offenhalten der Frag-Würdigkeit; dann vielleicht im gemein­samen Kreieren von Bildern und Vorstellun­gen, und sicherlich in einer redlichen Ant­wort im Sinne dessen, was die erwachsene Person selbst glaubt. Um dieser Beziehungs­qualität auf die Spur zu kommen, bedarf es nicht-diskursiver, z.B. erzählender oder dar­stellender Formen des Gefühlsausdrucks. Eine Problematik liegt darin, dass Erwach­sene es nicht gewöhnt sind, die beziehungs­mässige Tragweite ihrer eigenen Fragen wahrzunehmen. Auch Studierende diskutie­ren mit Vorliebe und Ausdauer über die Frage: Gibt es ein Leben nach dem Tod?,ohne sich der Bedeutung für ihre eigene Er­fahrung zu stellen. Wird die konkret existen­zielle und gefühlsmässige Komponente au­ßer Acht gelassen, kann auch eine positive Antwort (»Christen ist ewiges Leben zuge­sagt« o.Ä.) den Kern des Gefragten ganz verfehlen.  Um zu verdeutlichen, was mit der Bezie­hungsqualität großer Fragen gemeint ist, bie­tet sich der Begriff » Thema«, wie er in der Themenzentrierten Interaktion (TZI) ver­wendet wird, an. Thema heißt hier nicht vor­gegebener Inhalt oder Lernstoff, sondern ist gebunden an die Komponenten »Ich« und »Gruppe«. In der TZI drückt das Thema die Zusammengehörigkeit von Sachen, Men­schen und Beziehungen aus (Langmaack, 59-69). Konkret gesprochen: Grosse Fragen sind in diesem Sinne nicht nur theologische Sachprobleme, sondern existenzielle Lebens­fragen, die aus Erfahrungen resultieren und einen Deutungsbedarf signalisieren und die in ein Beziehungsgeflecht – hier in den Reli­gionsunterricht – hineingestellt werden.
In der TZI wird weiterhin zwischen kleinen und großen Themen unterschieden; ein klei­nes Thema ist demnach nur eine kurze Zeit lang aktuell, z.B. eine gemeinsame Unter­nehmung, während ein großes Thema über einen längeren Zeitraum immer wieder auf­taucht. Eine lebendige Beziehung hängt vor allem davon ab, tragfähige Themen entde­cken und gestalten zu können.
Diese Überlegungen sind für den Religions­unterricht, als Beziehungsgeschehen begrif­fen, äusserst hilfreich. Grosse Themen be­schränken sich nicht auf wenige Unter­richtsstunden, sondern werden immer wie­der virulent. Sie ergeben sich aus dem Be­ziehungsgeschehen ausserhalb und innerhalb der Schule.
Theologie treiben, Theologie vermitteln und theologisch kommunizieren im Klassenzim­mer setzt die Bereitschaft voraus, gemeinsa­me Themen zu suchen und zu bearbeiten.

»Grosse Fragen« der Schüler und Schülerinnen aufzugreifen bedeutet, sich dem ganzen Ernst ihrer Lebenssituation auszusetzen; aber auch, sich mit den eigenen ungelösten Fragen zu konfrontieren und sich eigener Grenzen bewusst zu werden. Ich gehe davon aus, dass die Beziehungsqua­lität »grosser Fragen« ein Schlüssel zur Wahr­nehmung und Bearbeitung gemeinsamer Themen ist. Es geht zunächst darum, Sensibi­lität für eine religiöse Ausdrucksweise von Schüleräusserungen zu entwickeln, die die Frag-Würdigkeit nicht vorschnell überdeckt, sondern offenhält. Der erste Schritt zu dieser Sensibilität ist die Bewusstwerdung der eige­nen religiösen Situation der Lehrperson.

Schreibwerkstatt zu »grossen Fragen«

Die im Folgenden dokumentierten Schritte sind in einer Seminarsituation entstanden und hatten das Ziel, die Beziehungsqualität grosser Fragen bei sich selbst und bei ande­ren wahrzunehmen; die Methode der Schreibwerkstatt ist in dieser Weise auch für Jugendliche geeignet.

  • In einem ersten Schritt werden die Teil­nehmerinnen dazu aufgefordert, ein bis zwei »grosse Fragen« zu notieren; diese werden in der Art eines Clusters für die Gesamtgruppe gesammelt und geordnet.
  • Dem eigentlichen Schreiben sollte eine Konzentrations- oder Stillephase voran­gehen, in der man sich an eine Situation zu erinnern versucht, in der sich eine gro­sse Frage gestellt hat. Die Aufgabe besteht darin, eine entsprechende Geschichte oder Begebenheit aufzuschreiben. Diese sollte aus der eigenen Erfahrung stam­men, aber möglichst in der dritten Person aufgeschrieben werden. (15-20 min).
  • In kleinen Gruppen von 2 bis 3 Personen werden die Texte vorgelesen. Die Gruppe entscheidet, ob und welchen Text sie der gesamten Gruppe vorlesen möchte. Die Texte sollten nicht von der Verfasse­rin/dem Verfassser präsentiert werden.
  • Nachdem eine Reihe von Texten präsen­tiert worden sind, wählt die Kleingruppe einen davon aus und versucht zunächst die Fragestellung zu formulieren, die ih­rer Meinung nach dem Text zugrunde liegt. Im nächsten Schritt werden alle möglichen Antworten oder Reaktionen, die für die Situation denkbar sind, gesam­melt. (»Stell dir vor, du würdest die Hauptperson treffen. Wie würdest du handeln, was würdest du sagen?«) Bei ge­nügend grossem Zeitbudget könnten auch Rollenspiele in Szene gesetzt werden.
  • In der Reflexion geht es darum, die Bezie­hungsdimension der Frage noch einmal zu formulieren, und ebenso die der mögli­chen Antworten. Geht die Antwort auf die Beziehung ein und wird die Frag-Würdigkeit des Problems offen ge­halten?

Die Methode der Schreibwerkstatt ist eine Weise, Inneres zum Ausdruck zu bringen. In diesem Fall dient die formale Vorgabe (nicht in der 1. Person schreiben) und das Vorlesen durch eine andere Person dem Schutz und der Distanzierung.
Wir haben also die Schritte Ausdruck (Formgebung) und Vertiefung bzw. Deu­tung. Die Form und die Distanzierung schaf­fen die Möglichkeit, zu sich selbst Stellung zu nehmen, sich zu verändern, neue Einsich­ten und Erfahrungen zu integrieren. Hier zwei Textbeipiele:

Text 1
Meine Schwiegereltern haben immer schwer und viel gearbeitet und sich nie etwas gegönnt. Mein Schwiegervater hat seine Frau immer vertröstet und gesagt: » Wenn ich 60 bin und in Rente gehe, holen wir alles nach, dann fahren wir in Urlaub, suchen uns ein gemeinsames Hobby und verbrin­gen viel Zeit zusammen.«
Kurz nach seinem 60. Geburtstag ist mein Schwiegervater an Krebs erkrankt und war wäh­rend der letzten 3-4 Jahre 16 mal im Kranken­haus. Zu Hause fühlt er sich meistens müde und schlapp und für grössere Ausflüge fehlt ihm die Kraft. Die Träume und Hoffnungen bezüglich ih­res Lebensabends mussten beide aufgeben.

Als Themen wurden erarbeitet: Sinn des Le­bens, Leben nach dem Tod. Nimmt man die Beziehungsdimension des Textes ernst, so ergeben sich konkretere Fragen, z.B.:

  • Wie gehe ich mit »ungelebtem Leben« um?
  • In welcher Weise kann und soll ich zu Menschen mit »ungelebtem Leben« in Beziehung treten? Kann ich trösten oder aufmuntern?
  • Lohnt es sich, »Leben aufzuschieben«? Worin liegt das Sinnpotential dieses Le­bens?

Was in diesem Text zum Ausdruck kommt, ist nicht nur die Unwägbarkeit menschlicher Pläne und des menschlichen Lebens, son­dern die Grenzen und Unsicherheiten menschlicher Beziehungen, in diesem Fall zwischen Schwiegereltern und -kindern. Wie ist eine Reaktion möglich? Als Vor­schläge wurden genannt: Kontakt zu den Schwiegereltern pflegen und sie aufmun­ternd begleiten; Trauer zulassen; an schöne gemeinsame Erlebnisse erinnern. Fertige Antworten oder Verdrängung, etwa der Krankheit, missachten die Frag-Würdigkeit, die in der Tat nicht aufgelöst werden kann. Wenn aber die Antwort im konkreten Bezie­hungshandeln liegt, so bedeutet das keine Lö­sung im Sinne einer Auflösung, sondern im Sinne eines gemeinsamen Ertragens von Spannung, Ungewissheit und Unsicherheit. Daran schloss sich eine theologische Diskus­sion über den Satz »Der Sinn des Lebens liegt im Leben selbst« an. Inwiefern ist dies rich­tig, und wie würde sich dies in einem konkre­ten Lebenszusammenhang umsetzen?

Text 2
Immer wenn sie die Nachrichten sah, wurde sie furchtbar traurig. Sie lag auf dem Bett, eine Tüte Chips neben sich und sah, wie kleine Kinder schmutzig und abgemagert im Dreck saßen und eine Handvoll Reis assen. Dann die Bilder vom Krieg. Entstellte Kindergesichter. Kinder, deren Arme und Beine im Minenfeld zerfetzt wurden. Bilder aus russischen Kinderheimen, wo behin­derte Kinder in ihrem Bettchen dahin vegetier­ten, bis sie schliesslich vor Einsamkeit, Hunger oder Krankheit sterben. Niemand ist da, der sich um sie kümmert. Der Staat hat kein Geld. Nicht für Medikamente noch für Ärzte, Schwestern oder Essen. Ihr war schlecht! Vor Traurigkeit und aus schlechtem Gewissen heraus: Warum ging es ihr so gut und anderen so hoffnungslos schlecht? Sie fühlte sich hilflos und wusste doch, dass sie ei­gentlich mehr tun könnte; sei es nur Geld zu spenden. Sie fing an, Trans-Fair-Kaffee zu kau­fen, obwohl es ihr lächerlich vorkam. Ändern würde sich dadurch nichts.

Als grundlegendes Thema des Textes wurde genannt: Warum gibt es Leid? Kann man die Welt verändern? Der Text drückt Hoff­nungslosigkeit, Hilflosigkeit und Verunsi­cherung, aber auch Isolation aus. Er stellt die Frage nach dem Wert und Sinn des eigenen alltäglichen Handelns, danach, ob man glücklich oder zufrieden sein darf, wenn an­dere es nicht sein können. Soll man sich nicht besser auf das eigene Privatleben zu­rückziehen statt sich mit dem Leid in der Welt zu konfrontieren?
Mögliche Reaktionen auf diese Situation zu finden erwies sich als schwierig. Es zeigte sich, dass dieser Text die Grundstimmung vieler in der Gruppe ausdrückte. Vor diesem Hintergrund konnte eine fruchtbare theolo­gische Diskussion entstehen. An einer sol­chen Stelle könnte vielleicht die Bildkraft der Reich-Gottes-Gleichnisse angeboten werden, Bilder des Glaubens an das Große im Kleinen.
Deutlich wurde, dass christlicher Glaube eine Entscheidung im Sinne einer aktiven oder passiven Lebenshaltung impliziert und dass die unauflösliche Spannung, die in die­sem Text zum Ausdruck kommt, nicht allein ausgehalten werden kann, sondern gelebte Beziehung braucht. Dort ist auch der Ort, wo sich die Antworten auf die grossen Fragen er­weisen. Die theologischen Gespräche im Se­minar haben durch diese Vorbereitung an Dichte enorm gewonnen.

Kriterien für religiöses Sprechen

Oberthür hat die »Beachtung der Frag­Würdigkeit des Glaubens an Gott« (1998, 32) als ein zentrales Kriterium für religiöses Sprechen im Religionsunterricht genannt. Man könnte weitergehend sagen, dass dieses Kriterium für alle Lebensfragen gilt. Es ist keineswegs ein Paradox, dass die Bekräfti­gung und Durchdringung von Frag-Würdig­keit notwendig ist, um vorschnelle glättende Antworten zu vermeiden. In der symboldidaktischen Diskussion wird darauf hingewiesen, dass im Grundschulal­ter bis hin zur 5. und 6. Klasse das wörtliche Verstehen von Symbolen und Metaphern eine große Rolle spielt. Deshalb sei es kaum möglich, Symbole als Symbole in ihrem Verweisungssinn zu verstehen (vgl. Schweitzer). Auch hier kann die Bezie­hungshaftigkeit, auf die Symbole verwei­sen, zu einer Vertiefung führen.
Eine Untersuchung von Gottesbildern von Grundschulkindern (Weber 1997), die auf­gefordert wurden, nach einer Fantasiereise, in der sie mit einer Rakete in den Himmel geschickt wurden, zu malen, was sie beim Aussteigen aus der Rakete gesehen hatten, zeigte, dass diese Bilder zum einen mit ei­nem in Grösse und Form sehr unterschiedlich ausfallenden Gott ausgestattet waren, zu ei­nem überwiegenden Teil aber auch mit Na­hestehenden: Eltern, Geschwister, Grossel­tern, Haustiere etc., ebenso mit freundlichen Engeln.
Himmel ist der Ort, wo Gott ist – und liebe Menschen. Sicher wird hier, entsprechend auch der Vorgabe der Fantasiereise, Himmel als ein konkreter Ort verstanden, der irgend­wo »oben« liegt; die Bedeutungstiefe er­schliesst aber nicht in der Ortsangabe, son­dern in den erlebten oder erwünschten Be­ziehungen, die in diese bildlichen Vorstel­lungen mit eingebracht werden.
Nicht das wörtliche Verstehen ist hier die Herausforderung, sondern das, was an Be­ziehungserfahungen, Beziehungsfragen und -hoffnungen damit verbunden ist. Schule – und darin der Religionsunterricht – bietet Felder wichtigen Beziehungsgeschehens. Hier werden Fragen artikuliert. Religions­unterricht ist aber auch der Raum, in dem sich auf Dauer eine Antwort bewähren oder erweisen muss.

Der Beitrag ist zuerst in nahezu unveränderter Form in den Katechetischen Blättern (KatBl 124 (1999), 273-277) erschienen