Wie es das „Kyrie eleison“, das „Herr, erbarme dich“, in die Eucharistiefeier geschafft hat, das wissen selbst Fachleute nicht genau. Aber es ist wohl schon seit dem Anfang des 6. Jahrhunderts Teil der westlichen Eucharistiepraxis, aus der sich unsere heutige Messe entwickelt hat. Einig ist man sich aber, dass der Gebrauch im Gottesdienst zurückgeht auf eine vorchristliche antike Praxis: Die Untertanen riefen dem (göttlichen) Kaiser, der einen Ort betrat, das „Kyrie eleison“ als Huldigungsruf zu. Wenn man sich vorstellt, wie der antike Kaiser durch die Strassen zog oder seine Palastaula betrat und die Leute, die seinen Weg säumten, ihm „Kyrie eleison“ zuriefen, dann kann einem zunächst der (laustarke) Einzug Jesu in Jerusalem in den Sinn kommen (vgl. z.B. Lk 19,28-40). Er erinnert stark an die „Parusie“ oder „Epiphanie“ bedeutender Persönlichkeiten in antiken Städten, die mit Jubel durch die Strassen geleitet wurden (man denke an die Inszenierung dieses Einzugs im Musical „Jesus Christ Superstar“ während des Lieds „Hosanna“). Und von da aus ist es nicht mehr weit bis zum Auftritt von Ed Sheeran oder anderen Stars unserer Zeit unter ihren Fans…

Von der Strasse in die Kirche

Vielleicht ist der Vergleich aber doch etwas weit hergeholt. Vielleicht war das „Kyrie“ in der Antike doch nicht so spontan wie der Jubel der Menge beim Auftritt ihres Stars. Und hoffentlich sind heute mit diesem Fan-Jubel nicht die gleichen Hoffnungen verbunden, wie in der Antike beim Ruf des „Kyrie eleison“. Denn mit diesem Ruf: Herr, erbarme dich! bekannten ja die Ruferinnen und Rufer ihre Überzeugung, dass der Angerufene sich ihrer erbarmen konnte, dass er ihre Not wenden und dass er sie retten konnte. Die Gottheit oder der Kaiser waren Ziel einer existentiellen Hoffnung.

Und so können wir feststellen, dass die Anrufung dessen, auf den man seine Hoffnung setzt, auch in der Messe angemessen ist. Nur rufen die Christinnen und Christen nun in der Eucharistie nicht mehr irgendeine Gottheit als ihren „Kyrios“, ihren Herrn, um Erbarmen an, auch nicht mehr den Kaiser oder die Sonne. Mit dem Ruf „Kyrie eleison“ bekennen sie die Gegenwart des rettenden Christus, „der Herr ist zur Ehre Gottes des Vaters“ (vgl. Phil 2,11).

Das Kyrie als Christusbekenntnis und Huldigungsruf Christi ist bis heute Teil der Eröffnungsriten der Messe. Zu ihnen gehören die Versammlung der Gemeinde, das Kreuzzeichen, die Begrüssung der Gemeinde, das Allgemeine Schuldbekenntnis, dann das Kyrie, gegebenenfalls auch das Gloria und schliesslich das Tagesgebet. Diese Stellung des Kyrie innerhalb der Messfeier ist in mehrfacher Hinsicht bedeutsam:

1. Keine Selbstanklage und kein moralischer Spiegel

Das Kyrie ist nicht in erster Linie Teil des Allgemeinen Schuldbekenntnisses, sondern folgt als separates Element darauf. Das Messbuch kennt drei Formen des Allgemeinen Schuldbekenntnisses. Nur in Form C ist dieses Schuldbekenntnis mit den Kyrie-Rufen verbunden. Dennoch ist nicht vorgesehen, dass diese ursprünglichen Huldigungsrufe für Christus einen Busscharakter annehmen oder zu einer Form der Selbstanklage werden. In der Praxis ist dies wohl leider oft der Fall. Vor allem in der Deutschschweiz ist die Form C zur alleinigen Form des Schuldbekenntnisses zu Beginn der Messfeier geworden. Eine entsprechende Besinnung, die gemäss Messbuch in Stille geschehen soll, wird ersetzt mit dem Kyrie vorausgeschalteten „Selbstanklagen“, für die sich bei einer entsprechenden Recherche im Internet viele Beispiele finden (hier einige: „Manchmal leben wir nicht so, wie du es dir von uns wünschst“, „Manchmal schaue ich so lange fern, weil ich immer denke, ich könnte eine Sendung versäumen und mir könnte etwas entgehen. So hält mich oft der Fernseher gefangen“, „Gott, durch Jesus Christus hast du uns das TEILEN gelehrt. Doch oft übersehen wir die Not der Menschen in der Welt“, „Oft verstricke ich mich in Lügen, weil ich zu stolz bin, Fehler einzugestehen“). Diese Selbstanklagen sind nicht nur historisch nicht mit dem Kyrie verbunden, sie sind auch theologisch und pastoral problematisch. Es werden nicht selten Schuldbekenntnisse den Gottesdienstteilnehmenden in den Mund gelegt, die diese gar nicht ablegen wollen. Anders ist das z.B. bei Form A, wo ein vorformuliertes Schuldbekenntnis von der ganzen Gemeinde gesprochen wird, das aber, nüchtern betrachtet, weniger moralisierend ist als manche Kyrie-Rufe. Insbesondere wenn Kinder die Kyrie-Rufe sprechen, sind die Selbstanklagen oft störend und fehl am Platz.

Die Alternative nennt das Messbuch selbst: Wenn den jeweiligen Kyrie-Rufen ein Text vorausgehen soll, dann soll es sich um „Christus-Prädikationen“ handeln (z.B. „Herr Jesus Christus, du bist vom Vater gesandt, zu heilen, was verwundet ist“). Die Bedeutung Jesu Christi als der Herr und Retter kann konkret genannt werden. Damit wird der uralte Huldigungscharakter der Rufe bewahrt und aktualisiert.

Schliesslich sei auf zwei Möglichkeiten hingewiesen, die das Messbuch neben Form A, B und C bietet: „Das Allgemeine Schuldbekenntnis kann entfallen, wenn eine besondere Festlichkeit des Gottesdienstes dies nahelegt.“ und „An Sonntagen kann an die Stelle des Allgemeinen Schuldbekenntnisses das sonntägliche Taufgedächtnis (Besprengung mit Weihwasser) treten.“ Wenn häufiger von diesen beiden Möglichkeiten Gebrauch gemacht und in deren Anschluss das Kyrie gesungen würde, würde sich die ungute Verquickung von Allgemeinem Schuldbekenntnis und Kyrie in den Köpfen sowohl der Gottesdienstverantwortlichen als auch der übrigen Gottesdienstteilnehmenden etwas auflösen. Ähnliches gilt für den vermehrten Gebrauch auch der Formen A und B des Allgemeinen Schuldbekenntnisses (bei denen die Vergebungsbitte übrigens vor dem Kyrie gesprochen wird).

2. Begrüssung des in der Gemeinde anwesenden Christus

Wie schon gesehen, ist das Kyrie Teil der Eröffnungsriten der Messe. Noch bevor Christus in der Verkündigung des Wortes Gottes in die Gemeinde tritt, noch bevor er in Brot und Wein in der Feier der Eucharistie gegenwärtig wird, ist er schon da in der Gemeinde, die sich zum Gottesdienst versammelt, denn er hat zugesagt: „Wo zwei oder drei in meinem Namen versammelt sind, da bin ich mitten unter ihnen“ (Mt 18,20). Das Kyrie als Huldigungsruf an Christus anerkennt, dass Christus in der Versammlung von Christinnen und Christen immer schon gegenwärtig ist. Christus wird begrüsst, ihm wird gehuldigt. Diese Gegenwart Christi vor allem Tun wird besonders deutlich in einer möglichen Variante des Kyrie, die leider nicht häufig zu erleben ist: So kann das Kyrie auch als Eröffnungsgesang der Feier dienen und zum Einzug gesungen werden, entweder als Litanei, im Wechsel zwischen Kantorin und Gemeinde, oder in Form einer sogenannten „Leise“, also eines alten Kirchenliedes, dessen Strophen mit „Kyrieleis“, „Erbarm dich Herr“ oder ähnlich enden, z.B. „Maria durch ein Dornwald ging (Advent KG 314) „Gelobet seist du, Jesu Christ (Weihnachtszeit KG 331), Holz aus Jesu Schultern (Fastenzeit KG 394), Christ ist erstanden (Osterzeit KG 436), Nun bitten wir den Heiligen Geist (Pfingsten KG 482).

Das Kyrie mit Kindern oder Jugendlichen

Das Kyrie ist ein Huldigungsruf an Christus. Wir preisen Christus, der in unserer Versammlung gegenwärtig ist. Besonders für Gottesdienste mit Kindern und Jugendlichen ist deshalb nochmals zu betonen:
Die Kyrie-Rufe dürfen nicht zur Selbstexplikation oder gar (Selbst-)Anklage missbraucht werden. Sie dürfen auch nicht moralisierend aus unserer Sicht defizitäres Handeln von Kindern oder Jugendlichen thematisieren. Wenn sie durch einen vorgestellten Text ergänzt werden, muss dieser die Bedeutung Jesu Christi für uns und unser Leben (in Form C durchaus auch für unser Schuldigsein) zum Ausdruck bringen. Die Erarbeitung solcher Christus-Prädikationen kann ein reizvolles Thema in der Katechese und im Religionsunterricht sein mithilfe der Frage: Wer ist Christus für mich/uns? Welche Bedeutung hat er in meinem/unserem Leben? Wie bei den Fürbitten gilt auch hier, dass Kinder oder Jugendliche im Gottesdienst als Gebet möglichst nur das vortragen sollten was sie selbst erarbeitet haben.

Kyrie singen!

Der Liturgiewissenschaftler Theodor Schnitzler war ein grosser Anhänger der Liturgiereform des II. Vatikanischen Konzils. Aber schon kurz nach Erscheinen des erneuerten Messbuchs stellte er eine „Tragödie des Kyrie“ fest. Durch die Nähe zum Bussakt sei der Jubel und Glanz des Kyrie demontiert worden. Aber er formulierte auch Hoffnungen. Er forderte eine Bewusstseinsänderung: „Man muss wissen, was man sagt und tut: Es geht um das Lob des Erbarmens, das in Christus zu uns kommt.“ Und als ein Heilmittel forderte er, dass das Kyrie grundsätzlich zu singen sei. „Sie [die Kyrielitanei] ist kein „Mea culpa“ [Schuldbekenntnis], von vielen gemurmelt, sondern ein dahinwallendes Lied der Gesamtgemeinde“ (Schnitzler 78). Dieser Forderung schliessen wir uns am Ende dieses Beitrags gerne an: acht Kyrie-Varianten und sieben verschiedene Herr-erbarme-dich bietet allein das KG. Da muss das Kyrie eigentlich nie mehr zerknirscht „gemurmelt“ werden, sondern kann als Akklamation, als Anrufung, als Jubel- und Huldigungsruf neu entdeckt werden (ein wenig inspiriert von den jubelnden Fans Ed Sheerans). Denen, die Sorge haben, dass dies die Messe unnötig in die Länge zieht, sei schliesslich ein weiteres Wort Theodor Schnitzlers mit auf den Weg gegeben: „Sie [die Kyrielitanei] ist der grosse Gruss der Ecclesia [Kirche] an ihren Herrn, jedenfalls wichtiger als die wortreichen Begrüssungen, die der Priester an die Gemeinde zu richten pflegt.“ (Schnitzler 78)