Deshalb ist der Anspruch von Messy Church nicht, Familien, die nicht zur Kirche gehen, weil sie (noch) keinen Bezug zum christlichen Glauben oder zur Kirche haben, in den normalen Sonntagsgottesdienst oder die Feiern für Kinder zu locken. Für einen der deutschen Protagonisten ist das «kein Projekt primär für Kinder, sondern vor allem für die Eltern …, keine neue Form des Kindergottesdienstes, sondern eine Maßnahme zum Gemeindeaufbau» (Sebastian Baer-Henney). Jene, die neue Gestaltungsideen für Kindergottesdienste suchen, werden zwar Vorschläge und Material finden, sie werden aber das Neue verpassen, das in diesem Buch mit Begeisterung präsentiert wird.

Messy Church entstand 2004 in Cowplain (bei Portsmouth/Südengland), als Lucy Moore, Mitglied von Bible Reading Fellowship und Frau eines anglikanischen Pfarrers, aus Frust über Mangel an Kindern im sonntäglichen Gottesdienst der Pfarrei nach einem anderen Ansatz suchte. Sie fragte nach dem Bedürfnis von Eltern und entdeckte den elementaren Wunsch, zusammen mit den Kindern etwas Kreatives zu tun. Daraus wurde ein Format mit drei Phasen: kreatives Miteinander der Generationen, Gottesdienst in einfacher Form und ein gemeinsames Essen. Gefeiert wurde einmal im Monat an einem Wochentag nach der Schulzeit. Lucy Moore stellte bald auch Praxismaterial zur Verfügung. Sie ist bis heute engagierte Promotorin von Messy Church im United Kingdom und international. Das Modell verbreitete sich unter anderem über das Netzwerk BRF und Fresh Expressions of Church inzwischen in allen Diözesen Englands. Weltweit gibt es je nach Quelle inzwischen 4000 und 5000 Messy Churches in über 30 Nationen. Der Schwerpunkt liegt weiter in England, wo inzwischen auch soziologische Daten erhoben wurden (s.u.). Das deutsche Netzwerk «Kirche Kunterbunt» startete 2019.

Für unsere Ohren klingt «Messy» wenig nach kreativem Feuer, so dass deutschsprachige Ableger andere Namen tragen: Überraschungskirche, Chaoskirche, Kreativkirche – oder eben «Kirche Kunterbunt». Unter diesem an die Villa Kunterbunt von Pippi Langstrumpf angelehnten Namen firmiert das deutsche Netzwerk von Messy Church. Doch was ist Messy Church/Kirche Kunterbunt? Trocken formuliert: «Kirche Kunterbunt ist eine generationenübergreifende, neue Ausdrucksform von Kirche, in der Kinder und ihre Bezugspersonen zusammenkommen, um zu reden, kreativ zu werden, miteinander zu essen und Gott zu feiern.» (16f) Das vorliegende Buch zeigt, worum es in einer Kirche Kunterbunt geht, welche Werte dem zugrunde liegen, wie es geht – zu zehn Themen werden auf etwa 120 Seiten Anregungen für die Kreativstationen, den Werkstattgottesdienst und Ideen für die Weiterführung in der Familie geboten (Vorlagen von Lucy Moore). Abschliessend berichten drei Personen in Interviews von ihren Erfahrungen.

Ein Gottesdienstkonzept, das auf Werten basiert, mit einem Missionsstatement arbeitet, kommt anders daher als sonstige Familien- oder Kindergottesdienste. Anderes dürfte bekannt sein, ist als integraler Durchgang aber ungewohnt: eine Willkommenssphase (10-15 Min.), eine kreative Phase mit vielen Stationen zum einem Thema des christlichen Glaubens (45-60 Min.), ein sog. Werkstattgottesdienst (20-30 Min.), ein gemeinsames Essen (45-90 Min.) – insgesamt etwa 2-3 Stunden. Alles ist Feier, nicht nur der durchaus als zentral bewertete Werkstattgottesdienst – ein einfacher Gottesdienst mit Gesang, Gebet, biblischer Verkündigung, alles möglichst mit Verwendung von dem, was bei den Kreativstationen entstanden ist. Der Gottesdienst ist Teil einer integralen Feier, die vom Willkommen bis zum gemeinsamen Essen und zur Verabschiedung reicht. Liturgie und Leben gehören zusammen.

Das Spezifische dieses Zugangs kommt in den Werten zum Ausdruck, die dem anglikanischen Vorbild folgen: Kirche Kunterbunt ist kreativ, fröhlich feiernd, gastfreundlich, generationenübergreifend und christuszentriert. Alle fünf Werte und nicht nur der zuletzt genannte werden theologisch fundiert. Gastfreundlichkeit beruht darauf, dass Gott alle Menschen willkommen heisst, Kreativität ist zurückgebunden an den Schöpfergott etc. Messy Church/Kirche Kunterbunt will den christlichen Glauben näherbringen, Beziehungen aufbauen, zuhören und niemanden vereinnahmen.

Im Kontext von Kirchenerneuerung findet sich immer wieder die Wendung «nicht kopieren, kapieren». Das gilt auch für Messy Church – Teatime als Zeitansatz ist wunderbar britisch, aber kein Marker in unserem Tagesablauf. Inkulturation ist gefordert. «Kapieren» ist die mentale, um nicht zu sagen die geistliche Voraussetzung für das Über-setzen in andere Kontexte. Das geistliche Movens, das neutestamentliche Kernwort discipleship/Jüngerschaft, ist vielfach ein mit Scham behaftetes Wort. Wenn ich mich nicht täusche, assoziieren viele damit Enge und nicht Weite, unreflektierte Begeisterung für Jesus und nicht Freiheit, womöglich Gruppendruck und nicht das Eigene, jede Person fördernde Freundschaft. Die negativen Assoziationen widersprechen dem biblischen Begriff. Wahrscheinlich muss ein Team, das Messy Church/Kirche Kunterbunt trägt, den Weg zu dieser in Jesus Christus grundgelegten Weite, Freiheit und Freundschaft erst freilegen, auf jeden Fall aber gemeinsam weiter beschreiten. Die Bibel dürfte sich dabei als eine zuverlässige Begleiterin erweisen.

Messy Church ist voraussetzungsreicher als es auf den ersten Blick erscheinen mag. Mit der Kreativität, Freude, Spiellust einer Kirche Kunterbunt kann das gelingen. Oder: «Was wäre wohl das Motto einer solche Pippi Langstrumpf-Kirche? Vielleicht dieses: ‘Geht nicht, gibt’s nicht.’» Der Ansatz ist spannend. In England ist er eine Erfolgsgeschichte.

WAS IST EINE FRESH EXPRESSION?

«Eine fresh expression of Church ist eine Gestalt von Kirche für unsere sich wandelnde Gesellschaft. Im Zentrum stehen Menschen, welche keinen Bezug zu Kirche haben. Grundwerte wie das Hören auf Gott und die Menschen, diakonisches Handeln, kontextuelle Mission und gelebte Spiritualität bilden das Fundament. Fresh expressions haben das Potenzial zu reifen Ausdrucksformen von Kirche zu werden, welche dauerhaft in ihrem kulturellen Kontext bestehen können.

Für eine fresh expression sind folgende vier Merkmale charakteristisch: missional – Ausrichtung auf Menschen, welche keinen Bezug zu Gott oder Kirche haben; kontextuell – geprägt vom Lebensgefühl, den Fragen und dem Suchen der Zielgruppe; transformierend – Menschen erleben die verändernde Kraft Gottes, werden darin begleitet und verändern wiederum ihren Kontext; ekklesial – sie bilden Kirche.»

Das epikletische Schweigen

Eine dritte Form der Stille im Gottesdienst ist das sogenannte „epikletische“ (herabrufende, betende) Schweigen. Es ist eine Art gefülltes Schweigen vor Gott. In Stille flehen wir Gott an, bitten, danken, verstummen vor dem Geheimnis, das Gott ist. Der Mensch und alle Welt verstummen in seiner Gegenwart (vgl. Hab 2,20). Diese Stille nimmt Gottes Grösse und Andersartigkeit ernst und bewahrt uns so vor Banalitäten und Plappereien im Gebet (vgl. Mt 6,7). Und gleichzeitig ist diese Stille, in der jede und jeder vor Gott steht, die persönlichste Form des gemeinsamen Gebetes: Wir besinnen uns darauf, dass wir „vor dem Angesicht Gottes stehen“ und können „unsere Bitten im Herzen aussprechen“ (vgl. GORM 54).

Dieses epikletische Schweigen hat in der Eucharistiefeier seinen Platz v.a. bei den sogenannten Präsidialgebeten, also beim Tagesgebet, Gabengebet und Schlussgebet. Anders als wir das leider aus der Praxis oft kennen, soll hier, nach der Gebetseinladung „Lasset uns beten“ eine kurze Stille gehalten werden, in der sich die Beterinnen und Beter sammeln, sich Gott zuwenden und öffnen, durchaus auch persönliche Anliegen vor Gott bringen. Diese gefüllte Stille ist „participatio actuosa“, tätige Teilnahme der Gläubigen, wie sie das Zweite Vatikanische Konzil wünscht und wie sie kein noch so aktuell formuliertes Gebet aller leisten könnte. In dieser Stille stellen sich die Betenden mit ihrer ganzen Existenz, ihrer Not und ihrer Hoffnung in Gottes Gegenwart und wissen sich dort geborgen. Der lateinische Begriff des Tagesgebets lautet „Collecta“, „Sammlung“ und deutet an, dass das anschliessend laut und vernehmlich gesprochene Gebet diese stillen Gebete der Gläubigen einsammelt und gemeinsam vor Gott bringt. Praktisch heisst dies, dass nach der Einladung zum Gebet und dem Sprechen von Tagesgebet und Gabengebet eine wahrnehmbare Stille einzuhalten ist, die Raum gibt für dieses persönliche Gebet (z.B. ca. 20-30 Sekundenoder bei einer geübten Gemeinde sogar länger). Durch seine gesammelte Haltung kann der Vorsteher der Feier deutlich machen, dass er nicht etwa den Faden verloren hat, sondern tatsächlich eingeladen hat zum gemeinsamen Beten – und selbst betet. Einzig beim Schlussgebet kann auf diese Stille verzichtet werden, wenn vorgängig eine Kommunionsstille gehalten wird. Auch diese Stille nach der Kommunion dient dem persönlichen Gebet und der Danksagung. Diese Stille sollte über das geschäftige Reinigen des Kelches hinausgehen (die am besten sowieso erst nach dem Gottesdienst gemacht wird, vgl. GORM 163). Auch der Priester sollte sich die Zeit nehmen, nach der Kommunion eine kurze Stille am Vorstehersitz zu halten. Übrigens ist die Kommunionspendung kein idealer Zeitpunkt für Stille, sondern das gemeinsame Essen (und Trinken) des Leibes und Blutes Christi ist der Gemeinschaftsakt par excellence der Liturgie und sollte deshalb – so sehen es sinnvollerweise die liturgischen Regeln vor – durch gemeinsames Singen gestaltet werden (vgl. GORM 86).

Schliesslich kann ein solcher Moment epikletischer Stille auch bei den Fürbitten sein. Einerseits anstelle des gemeinsamen Gebetsrufs am Ende („Wir bitten dich, erhöre uns.“), wobei dieser auch die Funktion der Zustimmung hat, und deshalb nicht darauf verzichtet werden sollte. Besser wäre es, nach der Nennung der einzelnen Anliegen jeweils eine kurze Stille zu halten, die abgeschlossen wird mit „Gott des Lebens“, „Gott, unser Vater“ o.ä., auf die dann der gemeinsame Ruf folgt. Zusätzlich kann als letzte Bitte die Gemeinde eingeladen werden, in Stille persönliche Anliegen vor Gott zu bringen.