1. Oh Gott, die Kirche

Freiheit und Wohlstand prägen unseren Lebensstil – die grundlegenden Existenzerfahrungen und existenziellen Fragen bleiben aber heute jedem und jeder Einzelnen überlassen. Leiden, Glückssuche, die Frage nach Erfüllung und Liebe, Wertschätzung und Sinn bleiben ohne Sprache und Ausdruck. Es sind genau diese Grundfragen des Lebens, die in der Religion in einem reichen Formenschatz symbolisiert sind. Die Religion ist damit bei weitem reicher und erfahrungsgesättigter als Philosophie und Kunst. Kirche, die Agentin dieser Religion, müsste also eigentlich aktuell sein.

Das Gegenteil ist der Fall. Denn sie kreist um einen alten, kaum noch verständlichen Bekenntnisglauben, der für heutige Existenzdeutung kaum noch anschlussfähig ist. Kirche erleidet Schiffbruch, es kündigt sich deutlich ein Kipppunkt und ein Ende an. Dass es so weitergehen wird wie bisher, glaubt kaum noch jemand. Das einst mächtige Christentum hinterlässt mittlerweile in Kunst und Leben keinerlei sichtbare Spuren mehr. Die breite Gruppe der „religiösen Sinnsucher“, die derzeit größte religiöse Gruppe, taucht auf dem kirchlichen Radar nicht auf.

Der Auftrag der Kirche wird aus der eigenen Glaubenstradition abgeleitet, dieser fühlt man sich verpflichtet – nicht den Menschen heute, allen anders lautenden Selbstauskünften zum Trotz. Der modernen Individualisierung zwischen Autonomie, Pluralisierung, Selbstverwirklichung und Netzwerken steht eine Kirche gegenüber, die Tradition, Einheit und die Eingliederung ins bestehende System. Sie ist deutlich vormodern. An dieser Abwertung leidet auch das religiöse Lernen.

Die meisten Religionspädagogen schätzen die Kirche, fühlen sich ihr allerdings nur wenig verbunden. Man könnte von einer liberalen Distanz sprechen. Insofern ist „Kirche“ scheinbar nur ein religionspädagogisches Thema am Rand. Das ist aber keineswegs der Fall: Die Kirche spielt eine weit größere Rolle als oftmals gedacht. Denn zu einem absteigenden Verein, der weitgehend nur noch mit den Alten und Schwachen assoziiert wird, will man nicht gern gehören. Das ist nicht anders als beim Fußball. Und das genau ist für religiöse Bildung fatal: „Reli“ generell wird zu einer überholten Angelegenheit.

2. Wortwörtliches Missverstehen

Ein dogmatisch geordneter Kirchenglauben kann an der Religiosität des Individuums kaum interessiert sein. Und das, obwohl Martin Luther Religion und Glauben an das Gewissen des Einzelnen band, Ernst Troeltsch den Protestantismus als die „Religion der Individualität“ bezeichnete, Friedrich Schleiermacher Religion als subjektives tiefes Erleben verstand – Jesus von Nazareth stets auf den einzelnen Menschen zuging. Religionsgeschichtlich steht dieser Jesus für die Individualisierung der Religion schlechthin: Alles, was einst zwischen dem Volk Israel und Gott passierte, liegt jetzt zwischen Gott und dem einzelnen Menschen. Religiöse Bildung müsste also der Entfaltung subjektiver Religiosität dienen. Der religiöse Traditionalismus aber ist am Individuum nicht wirklich interessiert.

Verstärkt wird das durch die Unfähigkeit zum symbolischen Denken. Dass die Weihnachtserzählung eine Legende, die Trinität ein Symbol und die Schöpfungserzählung ein Mythos ist, wird nicht ausdrücklich benannt. Nach wie vor spricht man das uralte Glaubensbekenntnis, nach dem Jesus in die Hölle nieder- und in den Himmel aufgefahren ist: die alte mythische Welt scheint einfach weiter zu bestehen. Auferstehung als Symbol? – diesem Gedanken möchte man sich am besten gar nicht stellen. So aber stärkt man in der Kirche die evangelikal-fundamentalistischen und autoritätshörigen Tendenzen und erweckt in der Außenwahrnehmung den Eindruck, das ganze Christentum sei dem Inhalt nach ein überholtes Märchen, der sozialen Struktur nach eine Sekte.

Beides ist auch für die Religionspädagogik eine bleibende Gefahr: der Traditionalismus (der ein reines Stofflernen hervorbringt und die individuelle Religiosität übergeht) und die Unfähigkeit zum symbolischen Denken (die das Missverständnis einer 7-Tage-Schöpfung, eines thronenden Gottvaters usw. nicht auszuräumen vermag). Religionspädagogik muss spätestens ab der 4. Klasse entmythologisieren, d.h. verständlich machen, dass die Erfahrung hinter dem Text oder Symbol wichtiger ist als dieses.

3. Religiöse Erfahrung

Eine lebendige Religion weiß: In der Religion geht esnichtum Religion.Und schon gar nicht um Ethik. Sondern: um das Leben. Religion ist in erster Linie symbolische Lebensdeutung, und nicht die Verkündigung irgendeiner vorgegebenen Wahrheit. Sie geht von den lebensweltlichen Erfahrungen und Fragen der Menschen aus und stellt diese in symbolischer Form in einen übergreifenden deutenden Kontext. Die Bibel macht es vor: Die Klage eines Psalmisten oder die Befreiung Israels aus der Knechtschaft sind keine religiösen Ereignisse, sondern Lebenserfahrungen, die jeder nachvollziehen kann. Religiös werden sie, indem sie symbolisch – in Geschichten, Mythen, Ritualen usw. – auf Gott bezogen werden. Das zeigt deutlich: das Christentum weiß, wie es geht.

Die Kirche hat also durchaus das im Angebot, was Menschen heute so sehr suchen: Sinnerfahrung, Orientierung und intensives Erleben. Doch dieses tiefe Erleben, seine symbolische Deutung und seine Kommunikation finden inzwischen im Hauptschiff der Kirche nicht mehr statt, sondern eher in den kirchlichen Beibooten. Das sind die spirituellen Angebote zwischen Pilgern, Kloster-Auszeiten, Fastenpraxis und Meditation. Es sind die meist nächtlichen und mit starkem atmosphärischem Gehalt agierenden alternativen Gottesdienste, die oft große Scharen anziehen. Es ist der Kirchentag, an dem Menschen sich aus einem großen Angebot das auswählen, was sie individuell anspricht, die nach wie vor attraktiven Taizé-Andachten. Und vor allem: die Kirchenmusik; sie zieht die bei weitem meisten Menschen an. In diesen Beibooten stehen die Lebensfragen und die Erlebnissehnsüchte der Menschen im Zentrum, und sie sind hier nicht nur „Aufhänger“ für Predigt und religiöse Bildung. All das aber gilt als kirchliche Nebensache.

Religionsdistanz entsteht vor allem dort, wo die Kirche nicht den Menschen mit seinen Erlebnissen, Sehnsüchten und Fragen sieht, sondern nur ihre Traditionen weiterpflegt. Im Zentrum aller Religion steht das subjektive religiöse Erleben – und nicht ein uniformer „Glaube“, nicht einmal eine allgemeine Gottesvorstellung. Nur im tiefen Erleben ist Religion lebendig. Religion ist eine Haltung und Sichtweise, keine Überzeugung – dafür hat Jesus mit seinen Gleichnissen geworben. Das Leben ist Gabe Gottes, kostbar, eine schiere Heiligkeit. Wo Kirche die religiöse Erfahrung lebendig hält, ist sie attraktiv. Im Hauptschiff gilt das noch für die Karfreitagsandacht zur Todesstunde Jesu, für die Ostermorgenfeier, den Weihnachtsgottesdienst – höchst eingeschränkt aber für die kirchlichen Routinen.

4. Die religionspädagogische Folgerung

Religion sorgt für die symbolische Deutung der Existenzfragen und stellt sie in einen übergreifenden Kontext. Das ist nicht nur die Aufgabe der Kirche, sondern auch die der Religionspädagogik. Sie hat keine Traditionsstoffe zu lehren, zumindest nicht primär, sondern zu zeigen, wie Lernende heute die großen Erlebnisse und Fragen ihres Lebens symbolisch darstellen, kommunizieren und deuten können. Dafür muss sie die Menschen hier und jetzt kennen und ernst nehmen. Religiöse Traditionen gehören als Deutungsgrammatik in die Köpfe (und Herzen) der Profis, sie sind aber keine zu verkündigenden und lehrbaren Inhalte.

So wie die Kirche ihre munteren Beiboote nicht nur vorn ans Schiff setzen und sich von diesen ziehen lassen, sondern weitgehend in diese übersiedeln sollte, muss auch die Religionspädagogik sich endlich an der Logik der Religion orientieren. Sie muss Religion und Kirche zunächst klar unterscheiden. Sie muss sodann die Existenzerfahrungen der Menschen heute zum zentralen Thema machen. Sie muss zeigen, wie diese Erfahrungen symbolisiert und gedeutet werden können. Dafür bietet die biblische und die christliche Tradition ausgezeichnete Vorgaben, die zeigen, wie es gehen könnte – die aber nicht als Lernstoff zu übernehmen sind.

Dringend zu entwickeln wäre auch im Religionsunterricht eine vitale religiöse Kommunikation, die die lebensgeschichtlichen Fragen und Erfahrungen zur Geltung kommen lässt. Nur so wäre die Religionspädagogik bei ihrer eigentlichen religiösen Aufgabe. Erfahrungen zeigen: so wäre Religionsunterricht auch höchst attraktiv.

(abgekürzte und überarbeitete Version des Artikels “Schiffbruch mit Beibooten – Über Misere und Perspektiven kirchlicher Arbeit, publiziert in schwerpunkt – Religion reloaded)

Buchhinweis:
Joachim Kunstmann „Ein Ort für das Leben. Die religiöse Erneuerung der Kirche“, Gütersloh Sept. 2022.