Ethik und Moral sind häufig Teil von Computerspielerzählungen. In Games verkörpern die Spielenden oft eine moralisch höhere Instanz, die im Namen des Guten das Böse bekämpft, die Ordnung wiederherstellt und die Welt rettet. Doch in den meisten Spielen sind die Entwicklung des Helden und der Verlauf der Geschichte vorgegeben. Die Spielenden müssen keine moralischen Dilemmata lösen wie etwa jenes, dass das Gute mitunter mit moralisch fragwürdigen Mitteln durchgesetzt wird.

Moral-Meter-Games

Es gibt aber Ausnahmen. In Spielreihen wie Ultima, The Elder Scrolls, Fallout, Fableoder Black & White verfügt die Heldin oder der Held über eine Art moralisches Konto oder „Moral-Meter“. Die Spielenden haben die Freiheit, gut oder böse zu handeln und ihren Moralwert dadurch in die eine oder andere Richtung zu entwickeln. Durch Hinweise ist jeweils von vornherein klar, ob eine Handlung „gut“ oder „böse“ ist, wobei sich die Spielentwickler an den eigenen kulturellen Grundwerten orientieren. Der moralische Kontostand hat für den weiteren Spielverlauf Konsequenzen: Eine „böse“ Spielfigur nimmt z.B. ein anderes Aussehen an als eine „gute“, hat andere Spielcharaktere als Freunde, erhält andere Handlungsoptionen oder Kräfte usw.

Aus pädagogischer Sicht haben solche Moral-Meter-Spiele jedoch einen Haken: sie lassen kaum über das Richtige und das Falsche nachdenken. Das hat mehrere Gründe. Manchmal wird man als Spieler zum „Guten“ gezwungen, weil böse Taten durch eine wenig nachvollziehbare Weise vom Spielsystem abgestraft wird. Im Rollenspiel Oblivionbeispielsweise bleibt ein gekauftes Pferd stets bei seinem Besitzer, während ein gestohlenes sofort nach dem Absteigen aus jeder Ecke der Spielwelt zu seinem früheren Besitzer zurücktrottet. Das macht keinen Spass, die Spielerin wählt das Gute, ohne je ein moralisches Dilemma zu erfahren. Schwerwiegender aber sind die klare Benennung von Gut und Böse, die Offenlegung des momentanen moralischen Zustands der Spielfigur sowie die Quantifizierung von Moral. All dies bedeutet, dass die Gamer die Moral der Spielfigur vollständig unter Kontrolle haben und böse Taten jederzeit durch gute ausgleichen können. Damit fördern Moral-Meter-Spiele einen berechnenden Blick auf die Thematik. Es fällt den Gamern nicht schwer, das Moralsystem zu durchschauen und für spielerische Experimente und Vorteile auszunutzen.

Moral-Erzählung-Games

Einige Spiele jedoch gehen jedoch über das buchhalterische Management von Moral hinaus. In Deus Exwählt der Spieler jeweils die Vorgehensweise des Protagonisten: sollen die Probleme umgangen, mit technischen Hilfsmitteln gelöst oder mit tödlicher Gewalt aus der Welt geschaffen werden? Die hauptsächliche Vorgehensweise führt zu einem jeweils anderen Ende des Spiels. Im Ego-Shooter BioShockmuss die Spielerin entscheiden, ob sie ihren Protagonisten ein Mädchen retten oder dessen Kraft „aussaugen“ und somit sterben lässt. Es zu töten bringt den grösseren spielerischen Nutzen, als es zu retten. Erst das Ende des Spiels zeigt, wohin das eigene Verhalten führt. In den Rollenspielserien Mass Effect und Dragon Age kann der Protagonist egoistisch, rachsüchtig oder mit fühlend handeln, was teils über Leben und Sterben von ans Herz gewachsenen Freunden entscheidet. Noch weiter geht Heavy Rain, wo man als Vater eines entführten Jungen vom Entführer kontaktiert und gezwungen wird, unmoralische Taten auszuführen, um das Leben des Sohnes zu retten – die Spieler entscheiden, wie der Vater reagiert, und befinden sich konstant in der ethischen Zwickmühle. Solche Spiele ziehen keine klare Linie zwischen „gut“ und „böse“, sondern lassen die Gamer über ihr Handeln nachdenken und ihre Entscheidungen im Einklang mit ihrem Gewissen abwägen.

Life ist Strange im Religionsunterricht

Eines dieser Mainstream-Spiele, die einen erzählerischen Ansatz im Umgang mit moralischen Entscheidungen verfolgen, ist Life is Strange. Es ist ein Abenteuerspiel über mysteriöse Ereignisse in Arcadia Bay, einer fiktiven Küstenstadt in den USA. Die Teenager-Protagonistin Max Caulfield studiert Fotografie an der Blackwood Academy. Max ist kein gewöhnlicher Teenager. Sie leidet unter Visionen und entdeckt dabei, dass sie die Zeit zurückdrehen und auf diese Weise die eben vergangenen Augenblicke erneut durchleben kann. Die Spielenden können diese Gabe einsetzen, um die alltagsrelevanten Probleme einer Jugendlichen auf die eine oder andere Weise zu lösen. Oft sind ethische Entscheidungen zu treffen, die unmittelbare Konsequenzen für den weiteren Spielverlauf haben.

Life is Strange eignet sich für einen pädagogischen Einsatz insbesondere aufgrund seines (einigermassen) realweltlichen Settings mit heranwachsenden Protagonisten. Ausserdem läuft das Spiel auf mehreren Plattformen und ist hinsichtlich der Technik und Steuerung wenig anspruchsvoll. Die Spielinhalte sind gut zugänglich, die Episoden und Kapitel können einzeln ausgewählt und gespielt werden. Die vorliegende Unterrichtseinheit bezieht sich ausschliesslich auf die gratis erhältliche Episode 1. Die einzelnen Kapitel von Episode 1 dauern zwischen wenigen Minuten und einer halben Stunde und können jederzeit unterbrochen werden, etwa um Aufgaben zu lösen oder Fragen zu beantworten. Die Inhalte und Thematiken des Spiels legen einen Einsatz für OberstufenschülerInnen ab 14 Jahren nahe.

Die Behandlung von Life in Strange im Unterricht ermöglicht es, die darin aufgeworfenen Fragen der Identität sowie der Ethik und Moral zu reflektieren. Zu diesem Zweck habe ich sechs Spielsessionen mit Instruktionen, Aufgaben und Fragen erarbeitet. Idealerweise steht jeweils eine Doppellektion zur Verfügung, damit für eine Spielsession ca. 30-40 Minuten eingeplant werden können. In dieser Zeit werden einzelne Szenen und Kapitel gespielt. Die SchülerInnen identifizieren sich dabei mit der Protagonistin Max Caulfield und werden mit ethisch relevanten Problemen nicht nur theoretisch konfrontiert, sondern müssen diese für Max abwägen und lösen, worauf sie die Konsequenzen erfahren. Vor jeder Entscheidung helfen die auf Arbeitsblätter zu beantwortenden Fragen den Sachverhalt bewusst wahrzunehmen und die Folgen abzuschätzen (Sachbezug). Nach dem Spielen lassen sich diese moralischen Probleme vertiefen, indem eigene Haltungen und Handlungspräferenzen (Selbstbezug) sowie die Lösungsansätze der christlichen Ethik (christlich-biblischer Bezug) zur Sprache kommen (vgl. Lehrplan 21, ERG.1 und 2).

Die Unterlagen enthalten ein Konzept für die Unterrichtseinheit, das Möglichkeiten für die Lernziele, die Vorbereitung und Organisation und den Ablauf einer Sitzung aufzeigt. Die sechs Spielsessionen werden im Detail vorgestellt. Sie enthalten die jeweiligen Kapitel und Szenen, die gespielt werden, Anweisungen für das effiziente Spielen sowie Aufgaben und Fragen in den Bereichen Sachbezug, Selbstbezug und christlich-biblischer Bezug. Als Material werden Arbeitsblätter zu den Spielsessionen sowie Hilfestellungen zum Spiel Life is Strange– Links zu Spieltests, pädagogischen Beurteilungen, kommentierten Spieldurchgängen auf YouTube, Auflistungen der ethischen Entscheidungen und deren Konsequenzen im Spiel, Bezugsmöglichkeiten u.a. – mitgegeben.

Die Unterlagen finden Sie hier zur Nutzung