Es gibt in der Bibel viele verschiedene Geschichten, in denen die unterschiedlichsten Erfahrungen von Gemeinschaft verdeutlicht werden. Es bietet sich grundsätzlich jede Bibelgeschichte an, um Aspekte von Vergemeinschaftung zu besprechen, weil sie, wie der Anthropologe Carel van Schaik und der Historiker Kai Michel argumentieren, eine Form der Gesellschaftsanalyse darstellt (van Shaik, Michel). Solche Aspekte sind gemäss Lehrplan z. B. Angenommen sein, Ausgegrenzt werden, Dankbarkeit, Einsamkeit, Gemeinsam stark sein, sich einbringen etc. 5–8jährige können so geartete Situationen durchaus nachfühlen, jedoch ist es eine grosse Herausforderung, diese adäquat und für andere nachvollziehbar zu benennen. Mitunter kann es dem Kind sogar schwer fallen, die Gefühle für sich persönlich einzuordnen. Hier bietet die Bibel mit ihrem reichen Schatz an Geschichten und ProtagonistInnen ideale Identifikationsfiguren. So erhalten die Kinder ein Vokabular und Anschauungsmaterial als Verständigungsbasis für die Kommunikation mit anderen, in dessen Folge sie ihre individuellen Erfahrungen und Gefühle in einem überindividuellen und christlichen Rahmen ein- und zuordnen können.

Ein zeitloses und konkretes Beispiel wäre die Geschichte vom verlorenen Sohn (Lk 15,11–32). Eine wunderbare Möglichkeit mit den Kindern zu arbeiten bildet der Band «Der verlorene Sohn» von Christiane Herrlinger und Mathias Weber aus der Reihe «Bibelgeschichten für das erste Lesen». Kurze Texte werden von grossartigen und verständlichen Bildern ergänzt (vgl. https://www.die-bibel.de/shop/der-verlorene-sohn-4005).

Wie kann man nun damit arbeiten? Wir schlagen einen methodischen Vierschritt vor: Mittels der Deskription der Bilder holt man die Kinder da ab, wo sie stehen. So gelangen sie dann zu ihrem individuellen Erfahrungshintergrund, setzen diesen in Beziehung zu den Deutungen der anderen Kinder und schliesslich in Bezug zum biblischen Geschehen. Das Ziel ist: Abschliessend können die Kinder mit Hilfe von biblischen Geschichten, verschiedene Formen und Erfahrungen von Gemeinschaft benennen. Z. B. Was bedeutet für uns Christen Familie? Wie gehen wir als Christen mit Ausgegrenzten um? Etc.

Methodischer Vierschritt für die Bildinterpretation mit Kindern

  1. Mit den Kindern zuerst die Bilder anschauen und besprechen. Sie sollen beschreiben, was sie sehen und warum sie die Bilder so sehen. Als Lehrperson kann man wichtige Impulse zur Betrachtung geben.
  2. Die Lehrperson nimmt dann die Stichworte der Kinder auf und stellt sie zu einem späteren Zeitpunkt ggf. nochmals zur Disposition.
  3. Dann wird die entsprechende Geschichte – zusammen mit den Bildern – vorgelesen und anschliessend besprochen.
  4. Im letzten Schritt werden die Erfahrungen aus Schritt 3 mit denen von 1 bzw. 2 verglichen. Die Lehrperson moderiert und leitet den Prozess. Gelingt es den Kindern ihren Wahrnehmungshorizont in Bezug auf Gemeinschaften zu erweitern?

Das didaktische Beispiel des verlorenen Sohnes mit möglichen Impulsen

Schritt 1: Deskriptive Betrachtung

Ausgangspunkt bildet das Bild (vorerst noch ohne Text). Was sehen die Kinder hier? In diesem Fall ist das Begreifen der abgebildeten Personen als Familie sehr schwierig. Vielleicht kommen sie, mit etwas Hilfe, auf den Begriff der Hirten, was einer Berufsgemeinschaft entspricht. Eventuell fallen auch die Stichworte Männer, Leute, Tiere etc.

Schritt 2: Resultaterfassung

Die Lehrperson nimmt die Stichworte auf, ggf. werden sie notiert oder an die Tafel geschrieben.

Schritt 3: Bild-Text-Abgleich

Die Geschichte wird vorgelesen und besprochen. Für das Beispielbild lässt sich nun mit Hilfe des Textes der Familienkontext eindeutig erschliessen.

Schritt 4: Reflexion und Artikulation der neuen Sichtweise

Die Lehrperson lenkt die Diskussion mittels einer möglichen Auswahl von Fragen: Wer gehört zu einer Familie? Wer lebt bei euch mit in der Familie? Gehören auch Tiere zu eurer Familie? Habt ihr Geschwister? Können auch Hirten eine Familie sein?

 

Weitere Tipps

Da die Geschichte vielfältig bebildert ist, hier noch einige zusätzliche Impulse:

Der jüngere Sohn verlässt die Familie und geht in die Fremde.

Warum geht man von der Familie weg? Was heisst das, von der Familie wegzugehen? Was oder wen verlässt man? Gehört man trotzdem noch zur Familie? Wart ihr auch schon fremd/in einem fremden Land? Wie geht ihr mit Fremden um? Können Fremde Familienmitglieder werden?

Der Sohn feiert mit seinen neuen Freunden Feste.

Mit wem feiert ihr Feste? Warum feiert man gemeinsam? Was sind für euch Freunde? Gibt es unterschiedliche Freunde?

Der Sohn ist arm, allein und hat Hunger, ist ausgegrenzt.

Was heisst das, alleine zu sein? Kennt ihr das Gefühl auch, ausgegrenzt zu sein? Wovon kann man ausgegrenzt werden? Kennt ihr ausgegrenzte Menschen? Gibt es Menschen, die Hunger haben? Eventuell bietet sich hier der Bezug auf das Teilen der Kommunion im Gottesdienst an.

Der Sohn kehrt zu seiner Familie zurück. Es wird ein Fest veranstaltet.

Was macht ihr, wenn ihr nach Hause kommt? Was macht ihr, wenn jemand zu euch nach Hause kommt? Wann feiert ihr Feste? Feiert ihr in der Familie auch Feste? Wen ladet ihr dazu ein, wer gehört zu eurer Festgemeinschaft?

Der ältere Bruder vom verlorenen Sohn ist neidisch und wütend. Letztlich ist die Familie wieder komplett.

Seid ihr manchmal auch neidisch und wütend? Was kann passieren, wenn man neidisch und wütend ist? Was passiert, wenn ihr mit euren Familienmitgliedern oder Freunden streitet? Was macht ihr nach einem Streit? Und warum (die Gemeinschaft funktioniert wieder, ist repariert)?

 

Diese Heuristik lässt sich an allen möglichen Bibelgeschichten wiederholen, ohne dass sie ihren Kerngehalt und Erzählzusammenhang verlieren.

Oft können Kinder erstaunliche Hinweise geben, die den «gesunden Erwachsenen» völlig verborgen bleiben, da sie die Fähigkeit besitzen, Dinge von ihrer Einfachheit her zu sehen, weil sie noch nicht über normierte Sichtweisen verfügen.

 

Arbeitsmaterialien

  • Herrlinger, Christiane / Weber, Mathias, Der verlorene Sohn. Bibelgeschichten für das erste Lesen, Deutsche Bibelgesellschaft, Stuttgart 2018.
  • Bibelgeschichten für das erste Lesen
  • Deutsche Bibelgesellschaft (Hg.), Komm, lass uns feiern. Die Bibel für Kinder mit Fragen zum Leben. Erzählt von Mathias Jeschke, illustriert von Rüdiger Pfeffer, Stuttgart 2006.
  • Deutsche Bibelgesellschaft (Hg.), Komm, freu dich mit mir. Die Bibel für Kinder erzählt von Karin Jeromin, illustriert von Rüdiger Pfeffer, Stuttgart 2000

 

Literatur

Shaik, Carel van; Michel, Kai (2016): The Good Book of Human Nature. An Evolutionary Reading of the Bible. New York, Basic Books.