Gemeinschaftsherstellung und Diversität

Die soziologische Forschung geht von der Prämisse aus, dass Gemeinschaft nie per se existiert, selbst wenn sich bestehende Gemeinschaften nach aussen so darstellen. Stattdessen müssen Gemeinschaften aktiv hervorgebracht und fortwährend aktualisiert werden. Daher plädierte Georg Simmel, ein Gründungsvater der Soziologie, für den Begriff «Vergemeinschaftung». Vergemeinschaftung als Notwendigkeit gilt – ungeachtet ihrer Grösse – für jede Form der Gruppe, sei es die Familie, die Schulklasse oder sogar die katholische Weltgemeinschaft. Wollen wir Kinder dazu anregen, sich über Gemeinschaftserfahrungen auszutauschen, stehen sie vor der grossen Herausforderung einem Konzept Ausdruck zu verleihen, das zum einen divers interpretierbar ist und zum anderen ihre innerpsychischen Vorgänge betrifft. Ihr Verständnis von «Gemeinschaft» wird von vielfältigen Faktoren beeinflusst, z. B. dem soziokulturellen Hintergrund, welcher unter Umständen mit der Einbindung in spezialisierte Kirchengemeinden einhergeht (z. B. Missione Cattolica Italiana, Misión Católica de Lengua Española). Hinzu kommen familiäre Rahmenbedingungen und biografische Erfahrungen, die Vergleichshorizonte eröffnen/verschliessen wie bspw. der Fussballclub, die Pfadfinder oder keine Erfahrung in institutionalisierten Gruppen. Ebenfalls zu beachten ist, ob ein Kind alleine oder mit Geschwistern aufwächst. Letztendlich existiert schliesslich noch das in der Soziologie altbekannte Problem, dass Menschen einander nur vor den Kopf und nicht in den Kopf schauen können, so dass wir vor der ständigen Aufgabe stehen, unser Verständnis von der Welt, oder eben von Gemeinschaft, einander begreiflich zu machen. In Anbetracht der Altersgruppe 5–8 Jahre ist in diesem Zusammenhang zusätzlich dem Abstraktions- und Reflexionsvermögen sowie der Ausdrucksfähigkeit der Kinder Rechnung zu tragen. Aufgrund der, gemessen an einem gesunden Erwachsenen, «eingeschränkten» Verbalisierungsfähigkeit, werden in der Sozialwissenschaft Interviews mit Kindern ausgesprochen selten angewandt. Lehrpersonen stehen folglich vor der Aufgabe, in einer unweigerlich von Heterogenität gekennzeichneten Situation Rahmenbedingungen zu schaffen, die es Kindern ermöglichen, ihre Gemeinschaftserfahrungen auszutauschen.

Die Bibel als idealtypisches Verständigungsobjekt

Indem wir in einer Klasse nur schon über die Bibel reden, haben wir theologisch gesprochen eine «Ekklesia», eine Versammlung/Gemeinschaft geschaffen. Alle sprechen über den gleichen Gegenstand, auch wenn sie diesen, unterschiedlich kontextualisieren und deuten. Dennoch verfügt die Bibel über unveränderliche inhaltliche Aspekte (wie die Bücher des AT und NT), die allen Christgläubigen bekannt sind oder bekannt gemacht werden sollten, egal welchen individuellen Hintergrund die Person besitzt. In diesem Sinne weist die Bibel, die Idealmerkmale eines sogenannten «Grenzobjektes» auf. Grenzobjekte, im englischen Original «boundary objects» genannt, sind ein Konzept aus der Wissenssoziologie. Sie stellen einen gemeinsamen Bezugspunkt im Spannungsfeld heterogener Sichtweisen dar, um Vergemeinschaftung zu ermöglichen. Obwohl sie unterschiedlich interpretierbar sind, verfügen sie über ausreichend unveränderlichen Inhalt, um eine kohärente Identität zu wahren (Griesemer, Leigh Star 393). Der Bezug auf die Heilige Schrift lässt uns christliche Gemeinschaft erleben. Egal welchen sozialen Welten die Kinder angehören, als Christen finden sie in der Heiligen Schrift verschiedene Überschneidungspunkte ihres Wissens- und Glaubensvorrats. Nach soziologischer Auffassung müssen Grenzobjekte nicht notwendigerweise eine Materialität aufweisen, sondern können auch ideeller Natur sein, wie z. B. der Glaube an ein Leben nach dem Tod. Ihre integrierende Funktion entfalten Grenzobjekte in der Etablierung eines gemeinsamen Umgangs mit ihnen. Das heisst, Aufgabe der Lehrperson ist es, die vielfältigen Erfahrungen zu bündeln, zu kanalisieren und auf eine gemeinsame Verständigungsebene zu transferieren. Damit gelingt dem Grenzobjekt «Bibel» zweierlei: Es generiert im soziologischen Sinne Gemeinschaft, wodurch im religionspädagogischen Sinne die Voraussetzung geschaffen ist, um sich überhaupt über Gemeinschaftserfahrungen auszutauschen.

Die praktische Umsetzung erläutern wir im Artikel «Gemeinschaft erfahren: Eine methodische Anleitung»

 

Literatur

Leigh Star, Susan; Griesemer, James R. (1989): Institutional Ecology. „Translations“ and Boundary Objects. Amateurs and Professionals in Berkeley’s Museum of Vertebrate Zoology, 1907–1939. In: Social Studies of Science 19: 387.