Die Zeit des einseitigen Frontalunterrichts ist an schweizerischen Schulen seit Beginn des neuen Jahrtausends endgültig vorbei. Der Fokus wird heute auf eine ganzheitliche Bildung und Erziehung gelegt. Ein Teil dieser ist die sogenannte Erlebnispädagogik, als deren Vordenker der Genfer Universalgelehrte Jean-Jacques Rousseau gilt.

Natur, Mensch und Dinge

Rousseau hat in seinem 1762 publizierten reformpädagogischen Hauptwerk Émile oder über die Erziehung folgende Aussage gemacht, welche progressive Erziehungsansätze bis heute prägt: «Die Natur oder die Menschen oder die Dinge erziehen uns. Die Natur entwickelt unsere Fähigkeiten und unsere Kräfte; die Menschen lehren uns den Gebrauch dieser Fähigkeiten und Kräfte. Die Dinge aber erziehen uns durch die Erfahrung, die wir mit ihnen machen, und durch die Anschauung.» (Rousseau 10) Die Reihenfolge der Erwähnung der drei erziehenden Elemente Natur, Mensch und Dinge zeigt auf, welche Relevanz Rousseau dem Erleben in der Natur beigemessen hat.

Leben heisst nicht atmen, sondern handeln

Rousseaus Ansatz besagt, dass das Erleben dem blossen davon Hören überlegen ist. Noch höher als das Erleben wird aber das Handeln gewertet: «Leben ist nicht atmen; leben ist handeln, d.h. von unseren Organen, Sinnen, Fähigkeiten […] Gebrauch zu machen.» (Rousseau 15) Die Erlebnispädagogik zielt darauf ab, aus dem Klassenzimmer raus in die wirkliche Welt zu gehen und mit allen Sinnen wahrzunehmen, was um uns herum geschieht. Denn dadurch ist ein nachhaltigeres Lernen sichergestellt, ausserdem profitieren von der Erlebnis- (statt Ergebnis-)Orientierung nicht nur die schulisch starken Lernenden; eine ganzheitliche, allgemeine Förderung steht im Fokus.

Fehlender persönlicher Bezug

In der Schweiz, wo der Grossteil der Jugendlichen aus dem Mittelstand kommt, ist das persönliche Erleben von materieller Not und deren Begleiterscheinungen nicht üblich. Auch wenn im Unterricht Themen wie Armut oder Kolonialismus behandelt werden, bleiben diese aufgrund des fehlenden persönlichen Bezugs fremd und schwer nachvollziehbar. Die Frage stellt sich, wie die Sensibilisierung von Jugendlichen gegenüber Themen wie Armut und Not gelingen kann.

Not am eigenen Leib erfahren

Eine mögliche Lösung stellt die Teilnahme an einer Nacht ohne Dach dar. Wie es bereits im Namen der Aktion steht, erleben die Jugendlichen dabei unmittelbar am eigenen Leib, was es heisst, ohne ein richtiges Dach über dem Kopf draussen übernachten zu müssen. In einer interaktiven Präsentation erfahren sie vorgängig, wie es weniger privilegierten Jugendlichen ergeht. Danach folgt der erlebnispädagogisch wertvolle Teil: Nur durch selbstgebaute Kartonbehausungen vor Wind und Wetter geschützt, erleben die Teilnehmenden am eigenen Leib, was es heisst, obdachlos zu sein. Gemeinsame Aktivitäten wie das Hüttenbauen oder die eigenständige Organisation eines Abendessens fördern die Gruppendynamik und verstärken das Erlebnis, insbesondere, wenn für das Besorgen des Abendessens für eine Gruppe von einem Dutzend Jugendlicher nur wenige Franken zur Verfügung stehen.

Gerade dieses aktive und unmittelbare Erleben vermag es, Menschen nachhaltig zu prägen. Aus erlebnispädagogischer Sicht ist genau dies wesentlich, denn «nicht wer am ältesten wird, hat am längsten gelebt, sondern wer am stärksten erlebt hat.» (Rousseau 15f.)