Wider das Ghettodenken

Ghetto – das waren seit der frühen Neuzeit Zwangseinrichtungen zur Ausgrenzung der jüdischen Bevölkerung von der gesellschaftlichen Öffentlichkeit. Seit dem 19. Jahrhundert wird unter dem Motto „Religion ist Privatsache!“ immer wieder versucht, alle Religionsgemeinschaften aus der Öffentlichkeit auszugrenzen. Unter den totalitären Regimes des 20. Jahrhundert wurde es den Religionsgemeinschaften gar verboten über ihre „Sakristei“ hinauszuwirken. Heute beobachten wir eine widersprüchliche Situation in der Öffentlichkeit: Papst Franziskus oder der Islam im Kontext des politischen Islamismus haben Dauerpräsenz in den Medien. Einige Freikirchen zeigen, dass sich privatwirtschaftlich das Produkt „Religion“ durchaus erfolgreich bewirtschaften lässt. Auf der anderen Seite gibt es eher einen freiwilligen Rückzug der öffentlich-rechtlichen Kirchen aus der Öffentlichkeit, so z. B. aus der Schule (vgl. Schmid).

Für Christen ist Religion jedoch nicht nur Privatsache. Es gehört nach dem Kirchenverständnis des Zweiten Vatikanischen Konzils  gerade zum Auftrag der Kirche, ihre Stimme in die Gesellschaft einbringen (GS 3, 42). Das ist nicht einfach, denn die säkulare Gesellschaft zeigt sich als ein Geflecht von konkurrierenden Teilsystemen ohne einen übergeordneten Deutungshorizont. Die Kirchen, die früher diesen Sinnzusammenhang auf der Grundlage des christlichen Glaubens leisteten, sind bloss Mitspieler unter anderen in einer offenen Gesellschaft, die von einem neutralen Staat unter Gewährung der Meinungs-, Gewissens- und Religionsfreiheit zurückhaltend reguliert wird. In dieser Realität müssen sich die Kirchen aktiv um Präsenz und Dialog bemühen, um gehört zu werden. Die Kirchen müssen also auf eine neue Art gesellschaftsbezogener werden, wollen sie ihre Sendung wahrnehmen.

Eine wichtiges Feld ist dabei die Schule. Sie ist eine anerkannte Einrichtung, die die Heranwachsenden in diese offene Gesellschaft einführt. Die Schule ist selbst ebenfalls herausgefordert, ihre Ziele, Strukturen und Lehrpläne immer wieder neu mit den anderen Teilsystemen der Gesellschaft und der Politik auszuhandeln. Dies illustrieren die aktuellen Diskussionen um den Lehrplan 21. An diesen Aushandlungsprozessen können sich auch die Kirchen beteiligen und ihren Beitrag an das Bildungswesen einbringen; allerdings nicht in einem missionarischen Sinn oder mit der Absicht, Gläubige zu rekrutieren, sondern um sich dafür einzusetzen, dass „alle Menschen, gleich welcher Herkunft, welchen Standes und Alters, kraft ihrer Personenwürde das unveräusserliche das Recht auf eine Erziehung [haben], die ihrem Lebensziel, ihrer Veranlagung, dem Unterschied der Geschlechter Rechnung trägt, der heimischen kulturellen Überlieferung angepasst und zugleich der brüderlichen Partnerschaft mit allen Völkern geöffnet ist, um der wahren Einheit und dem Frieden auf Erden zu dienen.“ (GE 1)

Auf die Präsenz in der Schule, welche die Heranwachsenden in die moderne fragmentierte Gesellschaft sozialisiert, kann die Kirche keineswegs verzichten. Vielmehr ist anzustreben, dass Religionspädagoginnen und Religionspädagogen auf allen Ebenen des Schulwesens präsent sein und als kompetente Fachleute an den pädagogischen Entwicklungsprozessen mitarbeiten und mitdiskutieren. Sie müssen einstehen für eine Bildung, die den Menschen und das Gemeinwohl ins Zentrum stellt, sich nicht  bloss an Leistung und ökonomischer Verwertbarkeit orientiert. Deshalb gehört kirchlicher Religionsunterricht in die Schule, wohl kantonal verschieden, aber jedenfalls nicht freiwillig ins pfarreiliche Ghetto.

Kirchlicher Religionsunterricht in doppelter Abgrenzung

Der Religionsunterricht muss seine Position nach zwei Seiten klären: einerseits gegenüber dem bekenntnisunabhängigen Fachbereich „Ethik, Religionen, Gemeinschaft“ (ERG) des schulischen Lehrplans und andererseits gegenüber der Katechese im Kontext der Gemeindepastoral.

Religionsunterricht neben „Ethik, Religionen, Gemeinschaft“ (ERG)

Der Religionsunterricht hat mit ERG den Lernort Schule als Gemeinsamkeit. Beide Fächer partizipieren am allgemeinen Bildungsauftrag, wie ihn sowohl die staatliche Schule als auch die Kirchen verstehen. Das gemeinsame Ziel ist die Förderung und Befähigung heranwachsender Kinder und Jugendlicher zu mündigen Menschen (bzw. Christen), die ihr Leben eigenständig und in Verantwortung gegenüber der sozialen und ökologischen Mitwelt (bzw. und gegenüber Gott) gestalten können.

Zu einer subjektorientierten Bildung und Entwicklung zum Menschsein gehört der Aufbau von Kompetenzen im Umgang mit Ethik und Religion, unabhängig vom Bekenntnisstand der einzelnen Lernenden. Dafür soll sich die Kirche, gemäss der Verlautbarung der römischen Kongregation für das katholische Bildungswesen, „Erziehung zum interkulturellen Dialog“ von 2013, engagieren (vgl. Kongregation für das Bildungswesen). Dieses Bildungsengagement für alle sei nicht im Sinne eines Relativismus zu verstehen, sondern um alle Jugendlichen für den interkulturellen und interreligiösen Dialog fähig zu machen, der in einer pluralen und globalisierten Gesellschaft unabdingbar sei. Begründet wird dies im christliche Verständnis vom Menschen als Abbild des trinitarischen Gottes, vom  Menschen, der zu Beziehungsfähigkeit, Gemeinschaft und Frieden berufen ist. Schulischer Religionsunterricht oder ethische, religionskundliche Bildung  wie im Fachbereichs ERG ist deshalb aus theologischer Sicht zu begrüssen. Es ist für die Kirchen geboten, die erfolgreiche Umsetzung dieser Fachanliegen mit ihrem Fachpersonal zu unterstützen (vgl. Kanton St. Gallen).

Ebenfalls gemeinsam haben die beiden Fächer das Verständnis von formellem Lernen nach einem Curriculum innerhalb der Kontinuitäten von Raum und Zeit des schulischen Stundenplans. Der konfessionelle Religionsunterricht profitiert von der Teilhabe an der schulischen Lernkultur, welche Routinen, Verhaltensweisen und Regeln festsetzt.

Die Unterschiede zeigen sich in der unterschiedlichen Trägerschaft, hier der neutrale Staat – dort die Kirche oder die Kirchen. Weil die Kirchen die konfessionelle Neutralität des säkularen Staates und damit auch der Volksschule und die dadurch garantierte Religionsfreiheit selbst einfordern und stützen, ist es ihnen auch klar, dass das Fach ERG offen, nichtdiskriminierend und unparteilich gestaltet werden muss. Auch wenn bildungstheoretisch durchaus eine existentielle Auseinandersetzung mit den Fragen nach dem Ultimativen gefordert wird, beschränkt sich der Fachbereich ERG auf religionskundlichen und nicht-normativen Unterricht, um sich nicht in Bekenntnisfragen zu verstricken (Bundesverfassung 15).

Hier liegt gerade die Stärke des kirchlichen Religionsunterrichts. Er vertieft Themen inhaltlich, fokussiert auf das Christentum, konfrontiert Schülermeinungen mit normativen kirchlichen Positionen und fordert von Schülerinnen und Schülern, dass sie sich dazu verhalten – mit Zustimmung, mit Ablehnung, mit Fragen, mit Zweifel. Damit provoziert der Religionsunterricht existentielle Lernprozesse, die für die Schülerinnen und Schülern manchmal irritierend oder zumindest ungewohnt sind, jedoch ihre Entwicklung und Reifung unterstützen. Der Religionsunterricht ermöglicht auf diese Weise die Auseinandersetzung mit dem Glauben und der gelebten Praxis der christlichen Gemeinschaft und bietet einen Ort, wo Begegnungen und Erlebnisse kritisch reflektiert werden können. Zudem wird der Religionsunterricht als eigenes Fach und mit fachdidaktisch qualifiziertem Lehrpersonal unterrichtet, während ERG eine Aufgabe der Klassenlehrperson mit Generalisten-Ausbildung ist. Die Gefahr besteht auch, dass ERG dort quasi verdunstet, wo es nicht als eigenes Fach ausgeschildert ist oder die disziplinäre Verantwortung in Integrationsfächern zu wenig wahrgenommen wird.

Religionsunterricht neben Katechese

Mit der Katechese gemeinsam ist dem kirchlichen Religionsunterricht die kirchliche Trägerschaft. Obwohl der Unterricht in der Schule stattfindet, wird er von den kirchlichen Behörden verantwortet und finanziert. Das bedeutet für die Religionslehrpersonen, dass sie nicht gleichberechtigte Fachlehrpersonen im Schulhaus sind. Ihr Status bleibt speziell. Zusammen mit der Katechese hat der RU teil am Bildungs- und Verkündigungsauftrag der Kirche und führt die Heranwachsenden in das Verständnis und die Praxis des gelebten Christentums ein.

Religionsunterricht und Katechese werden in der Schweiz vielerorts nicht unterschieden. Vielmehr findet die „Katechese in der Schule“ oder „der Religionsunterricht im Pfarreiheim“ statt. Das ist vielleicht mit ein Grund, warum der Religionsunterricht hier im Unterschied zu Deutschland viel an schulischer Anerkennung verloren hat. Die bereits zitierte römische Verlautbarung hält jedoch unmissverständlich fest:  „ [Es…] muss hervorgehoben werden, dass der katholische Religionsunterricht eigene Ziele verfolgt, die sich von denen der Katechese unterscheiden. Während die Katechese die persönliche Verbundenheit mit Christus und das Reifen des christlichen Lebens fördert, vermittelt der schulische Unterricht den Schülern Wissen über das Wesen des Christentums und das christliche Leben“. (Kongregation für das Bildungswesen 74)

Formal lässt sich diese Unterscheidung dadurch charakterisieren, dass der Religionsunterricht am Lernort Schule, die Katechese am Lernort Kirche stattfindet. Katechese lässt sich am Lernort Kirche ganz anders gestalten, fern von schulischer Lernkultur. Mit erlebnispädagogischen Formen orientiert sie sich an christlichen Handlungsvollzügen wie den Sakramenten, der Liturgie, der Diakonie oder der Koinonia. Die zeitliche, räumliche und soziale Gestaltung braucht keine Stundenpläne, sondern die Beziehung zu Gott, die Begegnung mit gläubigen Menschen oder mit Einrichtungen der Pfarrei, der Vollzug religiöser Praxis und der Aufbau von Handlungskompetenzen stehen im Mittelpunkt (vgl. Kompetenzorientierte Katechese und Kessler 15f).

Im Unterschied dazu stehen im Religionsunterricht die Orientierung im Glaubenswissen, die komplementäre Unterscheidung der ethisch-religiösen Perspektive von den Zugängen anderer Schulfächern und der Dialog zwischen den Schülerinnen und Schülern mit ihren unterschiedlichen Sichtweisen im Zentrum. Während der Religionsunterricht die Identitätsbildung der Heranwachsenden unterstützt und sie zu einem mündigen Christsein heranführen will, steht am Lernort Kirche stärker die Sozialisation, die Einführung in und Partizipation am Leben der christlichen Gemeinschaft im Zentrum.

Unterschiedliche Zielgruppen

Der Fachbereich ERG richtet sich an alle Schülerinnen und  Schüler einer Klasse. Diese sollen lernen, sich gemeinsam mit Fragen von Ethik, Religionen und gemeinschaftlichem Zusammenleben auseinanderzusetzen, unabhängig von den jeweiligen konfessionellen und weltanschaulichen Hintergründen den einzelnen Kinder. „In der Perspektive Ethik, Religionen, Gemeinschaft entwickeln Schülerinnen und Schüler Kompetenzen für das Leben mit verschiedenen Kulturen, Religionen, Weltanschauungen und Werteeinstellungen…“ (vgl. Lehrplan 21)

Den kirchlichen Religionsunterricht besuchen alle christlichen Kinder, unabhängig von ihrer Nähe oder Distanz zur Kirche oder zu den Kirchen, ohne Voraussetzung einer Glaubenshaltung. Der Religionsunterricht ist ein Bildungsfach, das auf alle „Kirchensteuerzahlenden“ ausgerichtet ist, also mehrheitlich auf Kinder aus distanzierten Familien. Es bietet die herausfordernde Chance, Kinder und Jugendliche aus verschiedenen soziokulturellen Milieus anzusprechen, ihre unterschiedlichen Vorstellungen von Glauben und Kirche ernst zu nehmen und zu einem mündigen Christsein weiter zu fördern. (vgl. Calmbach).

Katechese lädt Kinder und Jugendliche ein, welche die Bereitschaft haben, das eigene Leben aufgrund des christlichen Glaubens zu befragen und zu gestalten, nach spirituellen Formen und Gottesbeziehung zu suchen, Beziehungen zur christlichen Gemeinschaft aufzubauen und den Glauben zu feiern.