So wird die Stärkung der Institution Schule und die Verbesserung des Images der Lehre­rinnen und Lehrer eingefordert. »Ganz sicher muss es in allen Schulen wieder zu Kopfnoten kommen, mit Eintragung der Fehlzeiten, auch auf Abschlusszeugnissen.« , heißt es da etwa (Hensel 13 ). Der Zentralsekretär des Dachverbands Schweizer Lehrerinnen und Lehrer (LCH), Urs Schildknecht, plädierte für rigorose Ausschlussmöglichkeiten renitenter Schülerinnen und Schüler: »Es kann nicht Aufgabe der Schule sein, unwillige Ju­gendliche mit einem unverhältnismäßig gro­ßen Aufwand der Lehrperson auf einen Mini­malstandard zu trimmen.«
Der Begriff »Disziplin« schillert. Im Sinne eines Fachgebietes oder einer sportlichen Disziplin etwa impliziert er den Anspruch eines systematischen und umfassenden Wis­sensgebietes oder eines Handlungsfeldes, das eine gewisse Kennerschaft erfordert. Im Sin­ne einer systematischen Arbeitsweise bedeu­tet Disziplin Zucht, Ordnung, Einordnung oder Unterordnung. Disziplin hat immer etwas zu tun mit Gren­zen, mit der Eindämmung von etwas, das sonst überschwappen würde, mit einem Zu­viel an Energie und Dynamik; es ist die Kon­zentration gegenüber der Zerstreuung, das Dabeibleiben gegenüber dem Abschweifen. Disziplin hat ihre Grenze in sinnlosem Ge­horsam und übertriebener Selbstzucht.

Problemanzeige: Disziplinlosigkeit

Anders als in den 197oer-Jahren ist heute nicht ein Zuviel an Disziplin und Unterord­nung der Auslöser für eine Problemanzeige, sondern mangelnde oder fehlende Disziplin. Wie die obigen Statements zeigen, wird das Problem ganz deutlich bei den Schülerinnen und Schülern bzw. ihren Eltern angesiedelt. Es wird personalisiert: Es liegt am Schüler. Eine solche Personalisierung findet auch bei den Lehrpersonen statt, die in der mangeln­den Disziplin ihre eigene Schwäche und Un­fähigkeit bestätigt sehen: Es liegt an mir.

Wolfgang Kasper stellt dieser Betrachtungs­weise eine systemische gegenüber. Der Kon­text der Klasse und im weiteren des schuli­schen und gesellschaftlichen Umfelds wird miteinbezogen. Das ermöglicht, fehlende Dis­ziplin anders wahrzunehmen, etwa als durch­aus angemessene Problemlösung, was die Si­tuation der Schülerlnnen angeht (etwa Befol­gen impliziter Spielregeln, Langeweile etc.). Für Kasper ist fehlende Disziplin als Störung immer ein Konstrukt des Beobachters (Kasper 155).

Disziplin und Schulkultur

Pädagogische Lösungsvorschläge setzen – bei aller Unterschiedlichkeit – immer bei der Interaktion im Klassenzimmer und in der Schule sowie deren Rahmenbedingungen an. Nachhaltig ist Disziplin im Sinne von Ar­beitsbereitschaft und zuträglichem sozialen Handeln nur im Rahmen von Schulentwick­lung und -kultur zu lösen; dazu gehören ne­ben Lern-, Kommunikations-, und Partizipa­tionsformen auch die Gestaltung von Schul­raum und -zeit.
Disziplin hat eine begrenzte Reichweite, wenn sie rein äußerlich bleibt. Aber auch » Disziplin als äußere Erscheinungsform einer inneren Ordnung« kann niemals ein Ziel an sich sein; sie ist immer Sekundärtugend:

» Nicht alles, was Menschen diszipliniert tun, ist deshalb schon vernünftig« (Jetter 31).

Die die Disziplin leitende Ordnung ist nicht sakrosankt. »Es versteht sich von selbst, dass die Disziplin einer Gangsterbande kein brauchbares Beispiel für die Pädagogik ab­gibt. Auf diese Ambivalenz von Disziplin ist häufig hingewiesen worden; sie ist per se we­der gut noch schlecht, sondern nur aus dem Kontext übergeordneter Ziele zu verstehen« (Groeben 8). Dieses übergeordnete Ziel der Schule ist das Lernen. In der Schule muss es darum gehen, »dass jeder Mensch Lernen als produktive Herausforderung erfahren kann« (ebd.).
Disziplinprobleme tauchen dann auf, wenn Schülerinnen und Schüler über- oder unter­beschäftigt sind. Die Lernmöglichkeiten und -anlässe dürfen also nicht vereinheitlicht, sondern müssen vervielfältigt werden. Ge­fragt ist innere Differenzierung. Auch die Arbeit an konkreten Projekten, am Ernstfall und die produktive Herausforderung können ungeahnte Disziplinressourcen hervorbrin­gen. Ein Blick auf die Jugendkultur zeigt, dass Hedonismus und eiserne Disziplin kein Widerspruch sein müssen« (Ferchhoff 3 5 ). Es gibt eine jugendkulturelle, nicht fremdge­steuerte, Spaß bereitende Disziplin beim Street-Basketball und Fußball, beim Compu­terspielen oder SMS-Schreiben. Die größte Herausforderung ist es, Lernen so zu gestal­ten, dass es als sinnvoll erlebt wird. Freie Ar­beit, Vertrauen in die Kompetenz der Schüle­rinnen und Schüler und das Eingebundensein in eine Gruppe sind dafür unabdingbar.
Das Entscheidendste im Hinblick auf Diszi­plin ist die Partizipation der Schülerinnen und Schüler. Sie müssen zu Experten für ihre eigene Disziplin, ihre schulischen Regeln und Umgangsformen werden. Rolf Werming un­terscheidet diesbezüglich drei Ebenen:

Disziplin in der Gestaltung der Beziehung zu Personen,

Disziplin in der Gestaltung der Beziehung zu Lerngegenständen,

Disziplin in der Gestaltung des Umgangs mit sich selbst.

Er spricht von Disziplin als einer Choreogra­fie. Diese kann nur gelingen, wenn Schülerin­nen und Schüler an der Erstellung von Regeln beteiligt sind, wenn das Gelernte lebensre­levant ist und wenn in menschenadäquaten Arbeitsformen und Zeitstrukturen gelernt werden kann.
Eine solche Erziehung zur Disziplin ist das genaue Gegenteil von dem, was Paulo Freire als Containerkonzept beschreibt. Schülerln­nen werden zu »Containern« gemacht, die von ihren Lehrerlnnen mit einer Pseudo­wirklichkeit gefüllt werden, die bewegungs­los, abgezirkelt und voraussagbar ist (Freire 57ff). Trotz der didaktischen Entwicklung der letz­ten Jahrzehnte ist Freires kritische Stimme noch nicht überholt, auch im Hinblick auf In­halte von Religionsunterricht und Katechese.

Phantasie und Gehorsam

Angesichts der Dringlichkeit von Disziplin­problemen und der drohenden Verführung durch kurzfristige, drakonische Ordnungs­maßnahmen, die entsprechenden Gehorsam erzwingen wollen und angesichts der neoma­terialkerygmatischen Versuchung in der Reli­gionspädagogik möchte ich mit einer kurzen theologischen Überlegung abschließen.
In dem mittlerweile fast vierzig Jahre alten Büchlein »Phantasie und Gehorsam« macht Dorothee Sölle auf die problematische Ver­bindung von Theologie und Gehorsamshaltung aufmerksam. Diese hat in beiden Kon­fessionen zu einer Versteinerung geführt, die heute noch nicht vollständig aufgebrochen ist. Zu Recht weist sie darauf hin, dass die religiös geförderte Gehorsamshaltung zu den Gründen gehört, die den Nationalsozialis­mus ermöglicht habe. Der Gehorsam Gott gegenüber und der Gehorsam Menschen oder dem Staat gegenüber werden miteinan­der vermischt. Gehorsam ist aber nur dann eine sinnvolle Haltung, »wenn er in Übereinstimmung des Menschen mit sich selbst geleistet wird« (Sölle 64). Erst Gehorsam in Freiheit er­möglicht sinnvolles Handeln, auch sinnvol­len Verzicht. Max Frisch weist in seinem »Dienstbüchlein« darauf hin, dass Disziplin im eigentlichen Sinne Produkt von Freiwillig­keit und Selbstverantwortung sein muss. Es gibt keinen Weg zurück in die vermeintlich heile Welt des Gehorsams und der Kopfno­ten. Disziplin ist in der heutigen Gesellschaft nur zu haben mit einem subjektorientierten Menschenbild und nach den Regeln eines demokratischen Gemeinwesens.

Der Beitrag ist zuerst in nahezu unveränderter Form in den Katechetischen Blättern (KatBl 124 (1999), 273-277) erschienen