Neueste Studien belegen eine im Zeitverlauf sogar gestiegene subjektive Bedeutung familiärer Bindungen für das eigene Wohlbefinden. Im Gegensatz zur Zweckrationalität und Funktionalität des Erwerbslebens ist Familie als zentrale Quelle von Lebenssinn für eine wachsende Zahl von Menschen mit höchsten Glückserwartungen besetzt.

Junge Erwachsene bringen Kinder zur Welt und merken plötzlich, dass ihnen etwas fehlt. Mit der Geburt eines Kindes stellen sich ihnen ganz neue Fragen: Sollen sie es taufen lassen? Soll es einer Kirche angehören, der sie als Erwachsene vielleicht zugehören, mit der sie aber überhaupt nicht mehr vertraut sind? In vielen Fällen spüren Eltern gleichzeitig Verunsicherung und Überforderung. Matthias Hugoth sieht sowohl Kinder als auch Eltern als „Orientierungs-Waise“: Eltern stehen religiös meist genauso am Anfang wie ihre Kinder.

Mit Kindern Religion neu entdecken

Mit seinen religiösen Fragen will das Kind nicht allein bleiben. Es stellt seine Fragen an Eltern, Erzieherinnen und Lehrer, weil es auch wissen will, was sie – oder „wir“ – glauben. Die religiösen Orientierungsbedürfnisse von Kindern haben angesichts der gesellschaftlichen, kulturellen und religiösen Pluralität eher zugenommen. Friedrich Schweitzer spricht vom „religiösen Kaspar-Hauser“-Syndrom: die gesunde Entwicklung des Kindes ist offenbar auch dann bedroht, wenn nicht zu viel, sondern zu wenig religiös erzogen wird, wenn religiöse Erfahrungen sprachlos bleiben und nicht mehr mit anderen geteilt werden können.

Religion ist insofern ein Recht des Kindes, weil zum Aufwachsen auch die Auseinandersetzung mit all dem, was Kinder fasziniert, staunen lässt, was sie nachdenken lässt und fragen macht. Fünf „grosse Fragen“ benennt der Religionspädagoge, die Kinder an Erwachsene richten und sie damit herausfordern, den Faden neu aufzunehmen. Und es sind grosse Fragen, weil sie zumindest potentiell nach einer religiösen Antwort verlangen:

  • Wer bin ich und wer darf ich sein?
  • Warum musst du sterben, was kommt nach dem Tod?
  • Wo finde ich Schutz und Geborgenheit? Die Frage nach Gott
  • Warum soll ich Andere gerecht behandeln?
  • Warum glauben manche Kinder an Allah, warum beten wir in der Kirche und Sedats Familie in der Moschee? Und andere überhaupt nicht?

Wenn sich Eltern heute für religiöse Erziehung entscheiden, handeln sie häufig gegen gesellschaftlichen Mainstreamvorgaben (vgl. Langenhorst und Dubach). Darin brauchen sie argumentative Hilfe und Unterstützung. Darin liegen Chancen für das Neu-Buchstabieren des Religiösen. Hält man sich vor Augen, dass die Distanzierung von Kirche „auch auf die nur spärlich angebotenen Entwicklungsmöglichkeiten über den Kinderglauben hinaus zu wachsen“ (Jakobs 126) zurückzuführen ist, dann gilt es umso mehr den gemeindekatechetischen Arbeitsschwerpunkt in Richtung lebensbegleitender Erwachsenenkatechese/-bildung zu verschieben

Diakonische Pastoral für und mit Familien

Familien wissen heute oft nicht, wohin mit dem Druck, der auf ihnen lastet. Im Unterschied zur rückläufigen Teilnahme am Sonntagsgottesdienst ist die Nachfrage nach familienbezogenen Ritualen ungebrochen. Nicht wenige junge Familien suchen zu für sie wichtigen Zeiten wie der Geburt eines Kindes oder an Weihnachten punktuell wieder Kontakt zur Kirche am Ort. Taufe, Erstkommunion oder Jahresfeste haben für sie eine lebensbegleitende Bedeutung. Dies wird auch künftig die Frömmigkeitsform der Mehrheit der Kirchenmitglieder bleiben: Wenn die eigene Biographie eine spirituelle Begleitung fordert, gehen diese sog. „Kasualienfrommen“ zur Kirche und praktizieren eine biographiebezogene Religiosität – nicht aber wenn die Kirche zum Sonntagsgottesdienst oder zum gemeindlichen Mitmachen einlädt.

Für eine diakonische Pastoral für und mit Familien ist es unabdingbar, die gelebte Religiosität in Familien zu respektieren und wertschätzend aufzunehmen. Sie hat einen deutlich eigenständig-eigengeregelten Charakter und ist gegenüber Vorgaben der Kirchen weitgehend immun und autonom. Lebensbedeutsam ist z. B. die Taufe weniger als liturgisch-katechetisches Initiations- bzw. kirchliches Institutionalisierungs-, vielmehr als familienbiografisches Ritual. In konfessionsverbindenden Familien ist die Kirchenzugehörigkeit nicht gegen die Familiensolidarität auszuspielen.

Generell beobachtet Stephanie Klein einen Bruch in der Tradierung der Kirchenbindung, nicht aber in der Tradierung des Religiösen. Ziel religiöser Erziehung ist es heute meist nicht mehr, zur Kirchlichkeit, das heisst zur Einhaltung von Normen oder Bindung an die Institution, sondern zu einem eigenständigen und selbst entschiedenen Glauben als Quelle gelingender Lebensbewältigung zu erziehen.

Eine diakonische Pastoral für und mit Familien („damit ihr Leben gelingt“) beginnt damit, kirchliche Angebote aus der Optik der betroffenen Subjekte heraus betrachten zu lernen und sich zu fragen: welche Bedürfnisse haben sie? Das grosse Potential gemeindlicher Eltern- und Familienarbeit liegt darin, christlichen Glauben als hilfreiche Praxis für die Bewältigung des Alltags erfahrbar zu machen, z.B. als wohltuend-entlastende Befreiung vom herrschenden Optimierungswahn. Um religiöse Eltern- und familiäre Beziehungskompetenz zu fördern und zu stärken ist religiöse Bildung in allgemeine Lebens-, Erziehungs-, Paar- und Familienthemen einzubetten, also in seelsorgliche Beziehungsbegleitung einschl. frauen- und männerbezogener Selbstthematisierung (vgl. Belok/Loretan-Saladin). Ziel muss es sein, Menschen in Familien zu einer alltagstauglichen persönlichen spirituellen Kompetenz anzuleiten. Anzuknüpfen ist an die besonders religionsaffinen Lebensphasen, welche die religiöse Dimension ahnen, eröffnen und berühren lassen. Zugespitzt umschreibt Christiane Bundschuh-Schramm als Vision impulsgebender Pastoral: „Gehen wir mit dem binnenkirchlichen Blick durch die Welt und wollen Menschen integrieren oder gehen wir mit dem inkarnatorischen Blick durch die Welt und helfen Menschen, Gottes Spuren in ihrem Alltag und in ihren Krisen zu entdecken und zu symbolisieren?“

Pastorale Kommunikation auf Augenhöhe setzt Kenntnis und Einfühlung in unterschiedliche Lebensstil(milieu)s und Lebensleitbilder voraus. Viele sog. Kirchenferne haben das Gefühl: „Nicht wir distanzieren uns von der Kirche, sondern die Kirche distanziert sich von uns.“ Für eine neue Koalition zwischen Kirche und Familie wird es wichtig sein, die gesellschaftliche Polarisierung zwischen kindorientiertem Familien- und paar- bzw. berufsorientiertem Nichtfamiliensektor nicht noch zu verstärken. Zugleich ist die Pluralitätsfähigkeit der sich wandelnden Volkskirchen herausgefordert, unter ihrem Dach ein breit gefächertes Spektrum von Werten und Lebensstilen zu akzeptieren und über die christliche Sinngebung unterschiedlicher Wertsetzungen und Lebensformen einen Dialog führen zu können.