M.J.: In den letzten Jahren erlebt der Ausdruck »Mission« bzw. »Missionierung« in kirch­lichen Kreisen eine Renaissance, gerade im Blick auf die säkularisierte und pluralistische Gesellschaft. Auch im Untertitel von »Zeit zur Aussaat« von 2000 heißt es: »missiona­risch Kirche sein«. Ist diese Wortwahl nicht ein Einfallstor für gravierende Missverständ­nisse?

J.W.: Der Begriff »Mission« ist im außerre­ligiösen Bereich ja durchaus wieder im Kom­men, im Sinne einer Neulandentdeckung oder von pionierhaftem Verhalten, wie etwa beim Wort » Weltallmission «. Mission im kirchlichen Kontext hat dagegen in der Tat oft einen indoktrinierenden Beigeschmack. Der Begriff ist aber schwer zu ersetzen und im Sinne seiner biblischen Grundlegung als Sendung« ist er unaufgebbar. Es geht um eine Präsenz des Evangeliums in der Gesell­schaft, um das Bewusstsein, dass Glauben eine Innen- und eine Außenwirkung hat. Die­ser Auftrag einer »Außenwirkung« kommt dort in den Blick, wo eine zunehmende Ent­chrisdichung eintritt. In diesem Zusammen-. hang ist es auch wichtig zu unterscheiden, welche Menschen man im Blick hat: Unge­taufte, Konvertiten, Wiedereinsteiger? Man sollte durchaus Alternativen zum Ausdruck »Mission« überlegen. Im bekannten Brief der französischen Bischöfe wurde »anbieten« ge­wählt, im Sinne von: Orientierung vom Glau­ben her anbieten. Die eigentliche Herausfor­derung ist letztlich eine Veränderung unseres Selbstbewusstseins als Christen.

M.J.: Was bedeutet diese Herausforderung kon­kret?

J.W.: Die Grundfrage ist: Wie kommt ein Mensch des 21. Jahrhunderts dazu, Erfah­rungen des eigenen Lebens mit Gott in Zu­sammenhang zu bringen? Dafür braucht es zunächst und vordringlich Bekehrung in un­seren eigenen Reihen. Ich denke gar nicht so sehr, dass wir den anderen etwas zu bringen haben. Man kann wohl Gelegenheiten zum Nachdenken schaffen, man kann Hinder­nisse intellektueller Art beseitigen oder etwa künstlerisch Brücken zum Evangelium hin bauen. Aber wir sind doch nur »Hebammen« für etwas, das letztendlich von Gott bewirkt wird. Die Frage ist: Wie ist überhaupt eine Wertbindung heute möglich? Man kann sa­gen, dass die Autonomie des Subjektes einer­seits manch Positives hat. Vieles in der Gesell­schaft ist nicht mehr so heuchlerisch. Wir leben ehrlicher, auch kirchlich gesehen. Das ist durchaus positiv zu sehen, auch wenn manchmal so viel Destruktion schmerzt. Auf der anderen Seite geht es aber um Werte, um menschliche Erfahrungen, die für uns alle wichtig und unaufgebbar sind. Sicher kann man menschliche Erfahrungen, auch so et­was wie Erfahrungen von »Selbsttranszen­denz« (Hans Joas), sowohl säkular als auch religiös deuten. Der Nichtglaubende und ich als Glaubender erfahren die Wirklichkeit in gleicher Weise. Aber wir Glaubende be­leuchten sie anders. Auf die Evidenz dieser Beleuchtung kommt es an.

M.J.: Wie kann man einen solchen Prozess fördern?

J.W.: Man muss zuerst einmal auskunfts­willig sein. Das ist vergleichbar mit Alltags­erfahrungen, etwa wenn jemand erzählt:» Ich habe einen schönen Urlaub gehabt. Da musst du auch mal hinfahren.« Sind wir imstande, unsere eigene Gottesbeziehung als Bereiche­rung anzusehen? Sind wir bereit, dies zu be­zeugen? Das bedeutet nicht, dass man nur dauernd jubeln muss. Es gehört auch das ge­kreuzigte Leben dazu, die Bewältigung von Leid, Tod und Sterben, das Leben in seiner ganzen Breite.

M.J.: Die innerchristliche »Konkurrenz«, Freikir­chen und Charismatiker, scheinen es ja besser als die etablierten Kirchen zu schaffen, das Erlebnishafte in Szene zu setzen und damit Menschen anzusprechen.

J.W.: Es braucht Erfahrungseinstiege, um das Bereichernde einer Bindung :rn Gott zu erspüren. Das kann im stillen Kämmerlein passieren, durch personale Begegnung oder durch Schicksalsschläge, durch tiefe Freude oder durch eine Überraschung. Ich plädiere nicht für ein überbordendes charismatisches Christentum, denn ein eindrückliches Erleb­nis ist nicht sofort Gotteserfahrung, auch nicht immer Erfahrung von »Selbsttranszen­denz«. Die Kirche muss klug überlegen, wo und wie sie sich positioniert. Wo soll sie Tü­ren aufhalten? Wie sieht das Gewand aus, in das ein skeptischer Zeitgenosse hineinschlüp­fen kann? Wir müssen die Orte entdecken, an denen sich das Reich Gottes heute ereignet. Es gibt Punkte im Leben, wo Menschen sehr empfänglich sind: Die Geburt des ersten Kin­des ist oftmals ein Anlass, sich wieder neu zu besinnen und vielleicht sogar eine religiöse Lebensdeutung anzunehmen. Oder eben Er­fahrungen von Leid und Lebenskrisen.

M.J.: Die Religiosität zeigt sich heute als individu­alisierte, als private Überzeugung, die nie­manden etwas angeht. Wie viel Gemein­schaftsbildung ist für den Glauben notwen­dig und möglich?

J.W.: In der DDR-Zeit hatten wir eine Art kirchlicher »Schulterschlussgemeinschaft«. Wir konnten ein starkes familiäres Gemeinde­bewusstsein ausbilden. Jetzt sind wir in einer offenen Marktsituation, in der auch der Be­zug zur Gemeinde lockerer wird. Vielleicht müssen wir, überspitzt gesagt, noch lernen, dass katholische Christenexistenz nicht un­mittelbar Gemeinderomantik braucht. Das Christentum lebt natürlich von der Gemein­schaft, aber die Formen kirchlicher Ge­meinschaft werden sich in Zukunft stark ver­ändern, wahrscheinlich weitmaschiger und großräumiger werden und ganz neue For­men von Kommunikation und Zusammen­halt ausprägen. Ich kenne Katholiken, die am »Gemeindekatholizismus« praktisch nicht teilnehmen. Sie würden sich nie an einem Adventsabend in der kleinen Diasporage­meinde beteiligen, aber sie fahren zweimal im Jahr in ein Bildungshaus oder zu einem christlichen Treffen einer Gemeinschaft.

M.J.: Muss denn Kirche nicht am Ort sein, ein Gesicht haben?

J.W.: Das ist eine Frage, bei der wir oftmals noch sehr ratlos sind. Aber ich glaube, die Kirche hat immer unterschiedliche »Kleider« an. Und die Kleider verändern sich immer wieder, im Zuschnitt, in der Weite.

M.J.: Wie schätzen Sie die Situation der Kinder­- und Jugendkatechese ein, ganz besonders im Hinblick auf die Erstkommunion-und Firm­vorbereitung?

J.W.: Es braucht eine neue Justierung zwi­schen Erwachsenen-und Kinderkatechese. Wir werden in Zukunft weniger Sakramente spenden. Aber die Palette des nichtsakramen­talen Bereiches wird viel breiter, und Kinder werden sinnvollerweise nur dort richtig und auf Dauer nachhaltig eingeführt in die sakra­mentale Welt, wo sie eine christliche Praxis in ihrem Umfeld erleben, ob das die Familie ist oder etwas anderes. Wir haben hier bei uns ei­gene katechetische Formen entwickelt, etwa die religiösen Kinderwochen. Gerade in den Ferien ist das Interesse der Eltern an kirch­lichen Angeboten groß, auch wegen des Weg­brechens von schulischen Angeboten für die Kinder. Wir leben in einem gesellschaftlich veränder­ten Umfeld und müssen neu buchstabieren, was Katechese heißt. Der schulische Reli­gionsunterricht bleibt wichtig. Religionsleh­rerinnen und -lehrer sind sicher in gewisser Hinsicht auch Glaubenszeugen. Aber sie sind natürlich zunächst einmal schulische Wis­sensvermittler. Für die Katechese brauchen wir eine neue religiöse Sprachfähigkeit. Wir überlassen die Bezeugung religiöser Lebens­horizonte allzu oft sektiererischen oder fun­damentalistischen Leuten. Diese Sprachfähigkeit in Glaubensdingen zu pflegen, eine angemessene und verständliche Sprache zu suchen, das ist auch eine Aufgabe der Religi­onspädagogik, letztlich aber aller wachen Christen.

M.J.: Manche sind enttäuscht, wenn die Katechese nicht zu einer kontinuierlichen Beteiligung führt. Aber könnte man nicht auch sagen, Katechese soll einen guten, sinnreichen » Bo­xenstopp« ermöglichen?

J.W.: In der Glaubensgeschichte ist es nie so gewesen, dass gute Katechese das Dauer­Christ-Sein garantieren konnte. Man kann es vielleicht mit der Bahn vergleichen: Wir müs­sen den Fahrplan aufrechterhalten und ga­rantieren, dass immer Züge fahren. Und da gibt es Leute, die einsteigen und aussteigen. Es sind viele Haltestellen zu ermöglichen. Es gibt auch Leute, die halten sich mal kurzzeitig fest und steigen bald wieder aus oder sprin­gen ab. Das müssen wir ertragen. Aber das Angebot von Zügen muss verlässlich sein. So gesehen ist auch der » Boxenstopp« ein zutref­fendes Bild für unsere derzeitige Situation.

M.J.: Sie haben über die Bedeutung der Sprach­fähigkeit gesprochen. Wie kann man diese Fähigkeit fördern?

J.W.: Das setzt Empathiefähigkeit voraus. Man muss die Menschen gern haben. Man darf die Leute nicht beschimpfen oder ihnen ihre Defizite vorhalten. So etwas baut keine Brücken. Aber es ist wichtig, möglichst viele Beteiligungsmöglichkeiten an kirchlicher Pra­xis zu schaffen. Da sind wir noch zu einfalls­los. Die Räume, in die wir einladen, sind noch zu eng. Diese weite Beteiligungsmöglichkeit betrifft natürlich auch Nichtgetaufte. Dazu ist Fingerspitzengefühl notwendig. Aber wir brauchen diese Grenzüberschreitungen. Ich bin jetzt im Advent ins größte Erfurter Wa­renhaus gegangen, zu einem Gesprächsabend über das Thema »Christen nur zur Weih­nachtszeit?«. Da ist man schnell bei Fragen des Menschenbildes. Mit einer Volkskundle­rin aus Jena habe ich schon einmal einen sol­chen Abend zum Thema »Schenken und Be­schenktwerden « gestaltet. Es waren über hundert Leute da, davon viele, die kaum Kir­chenschwellen überschreiten. Die Sprache des Glaubens muss erfahrungs­gesättigt sein. Am meisten hören die Leute zu, wenn einer »ich« sagt. ich habe diese und je­ne Erfahrung gemacht. Das ist die Grund­struktur von Katechese. Katechese braucht natürlich auch Reflexion. Katechese sichert das Glaubensbekenntnis ab und verteidigt es, sie hat auch apologetische Elemente. Aber letztlich ist Katechese eine Einladung zu ei­nem existenziellen »Hochseilakt«. Ein Bei­spiel: Wir haben jetzt in Erfurt eine sog. Kos­mas-und-Damian-Liturgie gehalten. Das ist ein Angebot für Menschen, die durch die Ge­sundheitsindustrie zwar einigermaßen wie­der saniert worden sind, aber dann mit ihrer Krankheit allein gelassen wurden. Bei dieser Liturgie ist das wichtigste Element das Zeug­nis von Kranken, die über ihre Glaubenssitu­ation berichten. Menschen sehen in ihrer Krankheit auf einmal mehr als nur ein Han­dicap. Krankheit wird zu einer menschlichen, zu einer religiösen Herausforderung, durch die man wachsen und reifen kann.

M.J.: Welche Rolle spielt das religiöse Wissen, die religiöse Bildung im Gesamt von Katechese?

J.W.: Wir werden hier in unserer Situation mit großen religiösen Wissenslücken kon­frontiert. Leute machen beispielsweise eine Kathedralenfahrt nach Frankreich, stehen vor einem Kirchenportal und können kaum etwas mit den Bildern anfangen. Im Jahr der Bibel 2003 haben wir gesehen, dass es einen echten Nachholbedarf an religiöser Bildung gibt. Die Aktionen dieses Jahres stießen auf breites Interesse. Diesem allgemeinen Bil­dungsauftrag wollen wir uns als Kirche durchaus stellen. Aber Bildung im Sinne von Wissensvermittlung reicht nicht.

M.J.: Welchen guten Rat geben Sie Ihren kirch­lichen Mitarbeitenden und den ehrenamtlich Engagierten in der manchmal nicht einfa­chen kirchlichen Situation?

J.W.: Das Gespräch fördern und dabei über Inhalte reden und nicht so sehr über Struktu­ren! Die Gefahr der Isolierung und des Al­leinkämpferdaseins ist für Seelsorger immer gegeben. Seelsorger brauchen die Chance, einmal den Kopf über den Alltagshorizont zu heben und von oben auf die heutige Situation zu schauen. Welche geistigen und gesell­schaftlichen Entwicklungen zeigen sich? Es ist ganz entscheidend, dass man nicht in den Alltagsaufgaben erstickt, sondern die eigenen Erfahrungen als Christ reflektiert. Man kann diese Situation mit der Situation eines Surfers vergleichen: Ein Surfer muss die Welle sehen, die kommt. Wenn er überrascht wird, geht er unter. Aber wenn er die Welle sieht, kann er sich auf sie einstellen und damit umgehen. Was bedeutet zum Beispiel für uns der Bevöl­kerungsschwund? Was sagt uns der Mangel an Finanzen? Was bedeutet die gewachsene Subjektivierung, die Auswahlmentalität der Menschen, die starke Milieubindung großer Bevölkerungsteile? Wo sehen wir Ansätze. und Neuaufbrüche im Religiösen, im Kirch­lichen? Wo verändert sich etwas nur und bricht nicht ganz ab? Diese Reflexionsarbeit ist wichtig für jene, die heute in der Kirche Dienst tun. Wenn wir nicht wissen, warum uns das Christentum reich macht, dann ist al­les andere Firlefanz. Gerade in ehemals stark von der Kirche geprägten Gegenden erlebe ich viel kirchliche Frustration und Müdig­keit. Natürlich gibt es tiefe Einbrüche und auch bittere Abbrüche. Doch man muss über­legen, wie wir den Weg des Glaubenszeugnis­ses unter veränderten Rahmenbedingungen weitergehen können. Dieser Aufgabe sollten wir uns stellen, dann wird auch die Zuver­sicht und der Wille zu neuer Gemeinsamkeit unter uns wachsen.

M.J.: Welche Erfahrungen entmutigen Sie, welche ermutigen Sie persönlich?

J.W.: Bitter ist die Erfahrung, dass es nahezu unüberwindliche emotionale Hindernisse für den Gottesglauben bei Menschen gibt, Vorur­teile, die ganz tief eingefressen sind. Enttäu­schend ist auch manches Versagen im kirch­lichen Umfeld, etwa funktionärshaftes Ge­habe. Entmutigend ist die Erfahrung von Resignation nach dem Motto: Es hat doch alles keinen Zweck. Sehr bereichernd ist es, wenn man Menschen zur Seite hat, mit denen man an einem Strang ziehen kann. Menschen, die nicht so schnell aufgeben, die vielmehr sa­gen: » Wenn der eine Weg nicht geht, dann lasst uns mal einen anderen Weg versuchen.« Was mir hilft, ist der Blick auf Menschen, die sich mit Fantasie und Fröhlichkeit einsetzen. Besonders ermutigend ist es zu erleben, dass immer wieder einzelne Menschen zum Glau­ben finden. Das sind keine großen Zahlen: Hier im Bistum unter hundert Erwachsenen­taufen pro Jahr, aber die Tatsache solcher Er­wachsenentaufen bestärkt doch sehr. Die Be­gegnung mit Katechumenen bereichert am meisten uns selbst. Pfarrer, die Menschen zur Erwachsenentaufe begleiten, sind oft berufs­froher als solche, die wie eine Lokomotive nur eine müde Gemeinde ziehen. Die Erfahrung, dass Gottes Geist eine Biografie verwandeln kann, erfahre ich wie ein Wunder. Gottlob, dass es solche Wunder auch heute gibt.

M.J.: Vielen Dank für das ermutigende Gespräch.