Schule als Ort der Bildung

“Freilich läßt sich’s machen. Die Pensen werden erledigt, zweifellos, aber mich will bedünken, die Gefahr rückt nahe, dass wir Streckenarbeiter werden und das ein zu hastiges Tempo die Harmonie des Unterrichts stört. Das Frage- und Antwortspiel, das heute schon viel zu eifrig betrieben wird, macht dann die Gedanken der Schüler noch unruhiger, die jungen Leute kommen noch weniger als jetzt zum Aussprechen und zum zusammenhängenden Reden.” (Aus: Korrespondenzblatt für den akademisch gebildeten Lehrerstand, 1911)

Schon vor über 100 Jahren wurde von Lehrern über die Masse an Wissen, behavioristische Vorgehensweisen und zu wenig aktive Schülerinnentätigkeit geklagt. Und immer noch – oder schon wieder – wird der Ruf nach neuen Lehrerinnen bzw. neuen Lehrmethoden laut. Für eine Veranstaltung wurde ich vor ein paar Monaten angefragt und sollte zum Thema: Die neue Lehrer*innen sprechen. Die Suche nach etwas Neuem ist ein Symptom für die Unzufriedenheit mit dem Bestehenden.

Aber wie sollen sie nun sein – die Lehrenden in einer Welt der Digitalität?

In Schule wird gelernt und gelehrt. Zwar verändern sich Art und Weise dieser Tätigkeiten, die Methoden und Medien und auch die Ziele. Und sicher wird sich auch der Ort verändern, aber Lehren und Lernen finden immer statt. Sie können nicht nicht stattfinden.

Wenn auch eine allgemeingültig Definition des Bildungsbegriffes fehlt, so gibt es doch ein grundlegendes Verständnis von Bildung. Bildung wird als persönlicher und konstruktiver Prozess des Lernens verstanden, der stark von persönlichen Eigenschaften, Fähigkeiten und Haltungen beeinflusst wird und über die reine Wissensaneignung hinaus geht. [1]

Wenn dies Konsens ist, dann muss auch kritisch die Rolle von Schule und den Lehrenden in diesem System hinterfragt werden. Lernen als persönlicher Prozess zeigt, dass hier stark auf der Beziehungsebene zwischen Lernern und Lehrenden gearbeitet werden muss. Und Lernen als aktiver, individueller Konstruktionsprozess verstanden, führt die Vorstellung des Nürnberger Trichters, die Übertragung des Wissens von einer Person auf eine andere, ad absurdum.

Wir müssen die Rolle der Lehrenden in diesem sich neu gestaltenden Bildungssystem definieren, um Veränderungsprozesse im Bildungssystem zu unterstützen. Bisher wurden nur hier und da kleine Schrauben im Bildungssystemgetriebe verstellt. Dies hat die Unwucht des Systems noch erhöht. Es wird immer deutlicher, dass das ganze System Bildung umgewälzt werden muss und dass der Umbau überall ansetzen muss. Lisa Rosa begründet dies sehr treffend:

Und weil es [Bildungssystem] komplex ist – wie alle Systeme – gibt es keinen logischen Anfang, man kann überall anfangen. Aber man muss auch zugleich überall anfangen, denn alles im System ist von allem anderen darin abhängig. (https://shiftingschool.wordpress.com)

Schule – ob die Bezeichnung erhalten bleibt, ist fraglich aber in diesem Zusammenhang nicht entscheidend – bleibt der Ort, an dem Bildungsprozesse stattfinden, an dem Lehrpersonen Bildungsprozesse gestalten. Lehrenden werden weiterhin:

  • die Aufgabe haben die erste Phase der Bildungsbiographie der Lernenden zu gestalten.
  • Lernen in Räumen, Zeiten und Prozessen strukturieren und die Lernenden begleiten.
  • Materialien, Methoden und Medien aufbereiten und zur Verfügung stellen.
  • Lernende auf ein lebenslanges Lernen vorzubereiten.

VUCA-Welt und „digitale“ Didaktik

Der Begriff der VUCA-Welt prägt auch die Bildungsdiskussionen. Volatility, Uncertainty, Complexity und Ambiguity beschreiben diese von vielen als unsicher und überfordernd empfundene Zeit. Elke Höfler hat in einem ihrer Vorträge allerdings eine Neuinterpretation dieses Akronyms gefunden, die ein anderes Verständnis transportiert: Vision, Understanding, Clarity, Agility. Die hier mitschwingende positive Einstellung sollte meiner Meinung nach die Weiterentwicklung und Gestaltung von Bildungsprozessen kennzeichnen und der Kern der Lehrendenhaltung sein. Das 21. Jahrhundert braucht eine Pädagogik, die zeitgemäß ist und sich nicht an den Ansprüchen des durch die Massenproduktion des Industriezeitalters geprägten 19. und 20. Jahrhunderts orientiert. Im Gegenteil, Bildung muss zukunftsweisend sein. In bestehende und bewährte Konzepte müssen die digitalen Medien Eingang finden, genauso wie sie es im Alltagsleben getan haben. Im privaten Bereich ist der Leitmedienwechsel [2] in großen Teilen vollzogen. So sind:

  • Mails statt Briefe
  • online shopping statt Einkauf im Kaufhaus
  • online banking statt Überweisung in der Bank
  • googeln (im Duden zu finden) statt Suche im Buch
  • messenger statt telefonieren

heute eine Selbstverständlichkeit. Im Bereich Bildung dagegen hat man den Eindruck, dass hier immer noch analoge Medien dominieren. Doch Lehrende in Schule und Hochschule müssen digitale Medien einsetzen, um den Bildungsauftrag, den sie haben, erfüllen zu können. So ist z. B. im Schulgesetz des Landes Sachsen-Anhalt als Aufgabe von Schule formuliert, dass “die Schülerinnen und Schüler zu individueller Wahrnehmungs-, Urteils- und Entscheidungsfähigkeit in einer von neuen Medien und Kommunikationstechniken geprägten Informationsgesellschaft zu befähigen“ [sind] (Schulgesetz LSA, §1, (2), 4.). Hier ist also explizit gefordert, die Schüler*innen auf die Digitalität ihrer Lebens- und später auch Arbeitswelt vorzubereiten. Vielfach wird dieser kompetente Umgang mit den Herausforderungen der digitalen Welt neben Lesen, Schreiben und Rechnen als 4. Kulturtechnik bezeichnet. Es wird gefordert, diese neue Kulturtechnik in den Schulen als verpflichtenden Bestandteil zu unterrichten. So fordert das Bundesministerium für Bildung und Forschung:

Digitale Kompetenz ist im 21. Jahrhundert – ebenso wie Lesen, Schreiben und Rechnen – eine Kulturtechnik, die für ein selbstbestimmtes Leben, berufliches Wirken und gesellschaftliche Teilhabe unabdingbar ist. Es ist daher unsere gemeinsame Pflicht, sie den Menschen auch mit auf den Lebensweg zu geben. (BMBF, 2017)

Digitale Kompetenz muss als Querschnittskompetenz gesehen werden. Digitales Arbeiten durchzieht als selbstverständliche Möglichkeit die Kulturtechniken Lesen, Schreiben und Rechnen, eröffnet neue Bereiche und kreative Potenziale. Wir brauchen ein neues digitales Selbstverständnis der Lehrenden.

Transportmetapher

Beim Transport entscheide ich nach bestimmten Faktoren über das Transportmittel. So sind z. B. Ziel, Mitreisende, Gepäck und Zeit Auswahlkriterien, um zu entscheiden, ob Fahrrad, Auto, Bahn oder Flugzeug benutzt wird. Sicher hat sich mit der technischen Entwicklung das Reisen verändert, aber immer noch ist es der Transport von A nach B.

Für Bildung trifft das vereinfacht auch zu. Faktoren wie Vorwissen der Lernenden, Erfahrungen in Methode x, Lerninhalte etc. entscheiden, welche Medien Lehrende einsetzen. Das entscheidende Kriterium dabei ist nicht, ob analoges oder digitales Medium, sondern ob es zu den Bedingungen des Lehr-Lernprozesses passt. Und auch das wiederum ist noch verkürzt gedacht. Es ist keine Wahl im Sinne von Entweder-Oder zu treffen. Genau wie beim Reisen, wo ich auch zwischen verschiedenen Transportmittel hin- und herwechseln kann, so ist auch der Lehr-Lernprozess gekennzeichnet von einer Vielfalt und einem beständigen Wechsel zwischen analog und digital. Selbstbestimmtes Arbeiten betrifft nicht nur den Inhalt, sondern auch die Wahl der Werkzeuge, Methoden und Medien – “The medium is the message” stellte Marshall McLuhan schon 1967 fest.

Blended working

Blended working kann eine Lösung sein. Blended learning als Begriff ist weit verbreitet und meint die Verknüpfung bzw. Mischung von Präsenzveranstaltungen und eLearning-Elementen. Doch eigentlich geht es meiner Meinung nach nicht nur um den Lehr-Lernprozess, sondern zuerst um dessen Organisation. Erst mit der Etablierung eines digitalen Workflows werden sich auch digitale Lehr-Lernkonzepte entwickeln und zur Selbstverständlichkeit werden.

Grundvoraussetzung für einen erfolgreichen Einsatz einer digitalen Arbeitsweise ist neben dem bisherigen Wissen über Mittel, Methoden und Abläufe des analogen Lernens, den Fertigkeiten im Umgang und in der Anwendung dieser weiterhin:

  • umfangreiche Kenntnisse über digitale Tools und Konzepte,
  • Erfahrungen und Fertigkeiten im Umgang und Einsatz dieser Tools und Konzepte,
  • die Fähigkeit zur Evaluation dieser,
  • die offene Haltung gegenüber Veränderungen,
  • neue Fehlerkultur, die Fehler als Lerngelegenheit ansieht.

Die Souveränität im Umgang und in der Auswahl des entsprechenden Mediums ist entscheidend. Deshalb gehört die oben genannte digitale Kompetenz verpflichtend in das Lehramtsstudium und die Lehrerfortbildung,nicht als neue 4. Kulturtechnik – was in dieser Formulierung häufig als zusätzliche Aufgabe bzw. Inhalt verstanden wird, sondern als selbstverständliches Arbeitsprinzip. Nur auf der Grundlage von Wissen kann ich kompetent auswählen, entscheiden und anwenden.

Kompetenzen von Lehrenden

Wie schon am Anfang festgestellt, gilt: Die Suche nach etwas Neuem ist ein Symptom für die Unzufriedenheit mit dem Bestehenden. Dies bedeutet jedoch nicht, das Bestehende unbesehen als falsch zu verwerfen, sondern es unter den veränderten Bedingungen neu zu bewerten, mit aktuellen Entwicklungen abzugleichen und zu vernetzen. Bedeutet für Lehramtsstudierende: Wissen z. B. über Instruktionalismus, Behaviorismus, Kognitivismus müssen sein. Nur im Verständnis und im Vergleich lassen sich Unterschiede zum Konstruktivismus und Konnektivismus verstehen und bewerten.

Grundlage jeder Kompetenz ist das Zusammenspiel aus Wissen, Fähigkeiten, Charakter eingebettet in das wichtige Thema Meta-Lernen, ausführlich und überzeugend im Buch “Die vier Dimensionen der Bildung” von Ch. Faldel, M. Bialik und B. Trilling dargestellt.

Lehrende müssen die Kultur der Digitalität nutzen und sowohl Inhalte als auch Arbeitsweise an den Anforderungen der Gegenwart und den Entwicklungen für die Zukunft ausrichten. Bekannter Content muss in neuen Kontext gesetzt werden. Mehr als je braucht es Personen, die aktiv handeln, agil entscheiden und vernetzt lernen. In diesem Buch heißt es im letzten Abschnitt:

Wir können uns keine größere Herausforderung und keine spannendere Reise vorstellen, als bei der Neugestaltung von Bildungszielen und Lernerfahrungen zu helfen, die alle Schülerinnen und Schüler auf ihre Zukunft vorbereiten und sie dazu befähigen, eine bessere Zukunft für uns alle zu schaffen. Wir haben die Hoffnung, dass Sie unsere Begeisterung teilen und mit uns an diesem Abenteuer teilnehmen wollen, das mit einer ganz einfachen Frage begann: Was müssen Schülerinnen und Schüler für das 21. Jahrhundert lernen?