Die Szene

Der junge Mann, nennen wir ihn Markus, hat erlebt, wie sein reicher Vater seinen jüngeren Bruder, im Spiel heisst er Simon, der für längere Zeit verschwunden war, mit  überschwenglicher Freude wieder zu Hause aufgenommen hat. Obwohl Simon in kürzester Zeit die Hälfte des Familienbesitzes verprasst hat, gibt es keine Vorwürfe. Der Vater lässt vielmehr alles stehen und liegen und sorgt dafür, dass ein großes Empfangsfest ausgerichtet wird. Markus kann das Verhalten seines Vaters nicht begreifen, zumal er selbst immer brav zu Hause geblieben ist. Für ihn hat es nie ein Fest gegeben.

Abends am Lagerfeuer schüttet Markus sein Herz zwei Freunden gegenüber aus. Einer der beiden, Matthias, kann Markus gut verstehen, er wäre genauso sauer gewesen. Doch Lukas, der andere fiktive Freund, denkt anders. Er bringt Verständnis für Simon auf. „Schliesslich ist Simon aus dem ganzen Schlamassel lebend zurückgekehrt, das ist doch das wichtigste. Und euer Vater hat sich einfach nur gefreut.“ lauten seine Argumente. Dieser Spielszene liegt der neutestamentliche Text von den beiden Söhnen, Lk 15,11 ff. zugrunde.

Der Verlauf

Die Szene ist in der Lerngruppe als „Triade“ aufgebaut, eine kleine Form des Bibliodramas. Die drei Freunde sitzen sich im Kreis gegenüber, in der Mitte das imaginäre Lagerfeuer. Nach dem Eindoppeln der Spieler in ihre Rollen (die Gefühlswelt der einzelnen Personen wird vom Anleitenden – der Lehrperson – beschrieben) beginnt Markus im Spiel das Gespräch. Er schildert, was er erlebt hat und fragt seine Freunde, was sie davon halten.

Nach etwa drei Minuten (je nach Dynamik des Gespräches) tauschen die Akteure die Rollen. Die Person, die Markus gespielt hat, übernimmt die Rolle von Matthias. Der bisherige Matthias ist nun Lukas und die Person, die Lukas war, spielt jetzt Markus. Das Gespräch beginnt von neuem. Wieder nach ca 3 Minuten findet erneut ein Rollentausch statt, sodass jeder Teilnehmende jede Rolle ein­mal gespielt hat.

In der Triade erleben die Spielenden den Perspektivenwechsel. Sie entdecken die biblische Szene aus der Sicht des unsi­cheren, wütenden und älteren Bruders, des Freundes, der  seine Ansichten teilt, aber auch aus jener, die Verständnis für den Vater hat.

Mehrperspektivität

Die Lernenden nehmen den Bibeltext nicht nur zur Kenntnis, sie setzten sich im Spiel im wahrsten Sinne des Wortes mit ihm auseinander. Eine richtige oder falsche Lösung der Textdeutung gibt es nicht. Die Auseinandersetzung mit dem Problem ist wichtig. Der Bibeltext wird mehrperspektivisch erlebt. Fragestellungen der Spielenden werden mit dem Text verknüpft: Wie halte ich es aus, wenn ich mich ungerecht behandelt fühle? Kann ich verzeihen und großzügig sein? Welche Gründe sprechen für das Verhalten des Vaters?  Diese Auseinandersetzung ist erwünscht, um so einen aktuellen Bezug der Bibelbotschaft zu erreichen.

Die Triade eröffnet die Möglichkeit, um die Unmittelbarkeit und Kon­­­kret­heit der biblischen Geschichte zu entdecken, und sie mit der eigenen  Alltags­wirk­lichkeit und persönlichen Deutungen zu verknüpfen. Sie eröffnet kon­kre­te „Spielräume“ mit kon­kre­­tem Bezug zur Le­bens­wirk­lichkeit der Lernenden. Es setzt nicht die Kom­petenz der Ab­straktion vor­aus. Das Spiel ist unmittelbar und praktisch. In ihm wird di­rek­t geredet. Es ist im dra­matischen Spiel und in seinen plas­tisch aktuel­len Hand­lungs­­­formen für viele ver­ständ­lich. Beim Spiel sind die Akteure „in“einer Sache.  Hier sind Aktion und Reflexion, innereund (ge-)äussereAuseinandersetzung mit einem Thema eng miteinander verbunden.

Spielerisches Nachdenken

Wichtig bei der Gestaltung einer Triade ist die Dramatik der Szene. Konträre Positionen stehen sich gegenüber, die dritte Person ist die Fragende oder sie sucht nach Lösungen, ist aber unsicher.

Wesentliches Element der Triade ist der Rollentausch. Er ermöglicht plurale Wahrnehmung eines Problems. Zweifel, Ablehnung, Zustimmung zu einem Sachverhalt oder einem Ereignis werden individuell durchgespielt. Eine Triade ist szenisch gestaltetes Nachdenken. Ich spreche im Spiel aus, was dafür und dagegen spricht. Ich muss mich mit den Argumenten der Gegenseite auseinandersetzen. Ich darf Fragen stellen und Zweifel äußern. Ich darf das einbringen, was mich unabhängig vom Bibeltext bewegt. Im Rol­lentausch werden die Pro- und Contra-Argumente verkörpert. Die Sprache im Spiel ist direkt und kon­kret,  nicht  abstrakt oder konjunk­tivisch. Im Spiel wird ausprobiert, was sein könn­te. Das Rollenre­pertoire der Akteure wird erweitert.

Der „Mehr“-wert des Spieles

Im Spiel erleben die Akteure mehr als das, was wir allge­mein „Re­a­li­tät“ nen­nen. In ihm ist „mehr“ möglich. Im Bibliodrama wird dieses „Mehr“ „Sur­plus-Realität“ genannt. Solch eine Mehrwertrealität  drücken wir um­gangs­sprachlich aus, wenn wir sagen: „Da liegt etwas in der Luft.“  Wir haben eine Ahnung von dem, was noch nicht Re­a­lität geworden ist , aber möglich sein könnte.. Sur­­­plus-Re­alität ist dabei nicht nur das Einbringen von Phan­ta­sien, „Surplus-Realität“ bietet die Mög­lich­keit, die All­tags­­er­fah­run­gen zu über­steigern, neue Dimen­sionen des Han­delns und des Erle­bens zu er­öff­nen und sie im Spiel konkret auszuprobieren. Somit geschieht im Spiel zugleich ein Einüben in Zukünftiges. Es ist möglich, in neue Wirklichkeiten ahnend vorzudringen, die bislang unbekannt waren.

Im Anschluss an der eingangs geschilderten Triade – im Sharing – sagt Michael: „Als ich den Markus gespielt habe, konnte ich mich nur Ärgern. In der Rolle des Lukas war das anders, da habe ich den Simon besser verstanden, da hätte ich auch gerne so einen Vater gehabt, der sagt: Schwamm drüber. Aber die gibt es das ja nicht? Die meisten sagen doch, wer Mist baut, der musst dafür grade stehen und bekommt seine gerechte Strafe.“