Ich höre einen Einwand. Heisst es nicht treffender „Wofür gehst du?“. Ich habe doch meine Lernziele. Ich möchte Inhalte vermitteln. Ich habe pädagogische Interessen. Ich engagiere mich für die Entwicklung der Schüler/innen. Auch im Unterrichtszimmer soll der christliche Geist erfahrbar sein, nämlich in der Art, wie wir aufeinander hören, einander respektieren, miteinander diskutieren. Schliesslich fördert Unterrichten auch meine Professionalität und ermöglicht mir, für meinen Lebensunterhalt etwas zu verdienen.

Zugegeben, es gibt viele gute Ziele, wofür jemand vor eine Klasse tritt. Und Inhalte will ich schon gar nicht in Frage stellen. Und dennoch: Für wen gehst du?

Diese Frage steht in der chassidischen Erzählung „Der Wächter“:

In Ropschitz, Rabbi Naftalis Stadt, pflegten die Reichen, deren Häuser einsam oder am Ende des Ortes lagen, Leute zu dingen, die nachts über ihren Besitz wachen sollten. Als Rabbi Naftali eines Abends spät am Rande des Waldes entlangging, der die Stadt säumte, begegnete er solch einem auf und nieder wandelnden Wächter. „Für wen gehst du?“, fragte er ihn. Der gab Bescheid, fügte aber die Gegenfrage daran: „Und für wen geht Ihr, Rabbi?“ Das Wort traf den Zaddik (Gerechten) wie ein Pfeil. „Noch gehe ich für niemand“, brachte er mühsam hervor, dann schritt er lange schweigend neben dem Mann auf und nieder. „Willst du mein Diener werden?“, fragte er endlich. „Das will ich gern“, antwortete jener, „aber was habe ich zu tun?“ „Mich zu erinnern“, sagte Rabbi Naftali (Buber Martin, Der Wächter, in: Die Erzählungen der Chassidim, Zürich, 1949, 671).

Nur erinnern, das ist die Aufgabe, die Rabbi Naftali seinem neuen Diener aufträgt. Mitten ins Herz traf den ausdrücklich Gerechten die Anfrage des Wächters. Als Zuhörer erwartet man die Antwort: Ich gehe für Gott. Ich bin ja ein Gerechter. Nicht so Rabbi Naftali. Just in dem Moment, wo sein Zeugnis gefragt ist, wird er unsicher. Für wen gehe ich wirklich? Ist seine Verunsicherung Schwäche oder Stärke? Ich sehe darin seine Stärke; denn der Gerechte anerkennt: Was ich bin, verdanke ich einem Anderen. Aber nimmt der Wächter mir das ab, wenn ich es ihm sage? Verweist mein Tun und Lassen auf den, für den ich gehe? Das wäre authentisch und glaubwürdig zugleich – ein hoher Anspruch.

Für wen gehst du? Die Person, die verkündigt, wirkt nachhaltiger durch das, was sie als Person ausstrahlt, als durch das, was sie sagt. Das haben mich als Vikar die Brautleutegespräche gelehrt. Kamen wir auf den Religionsunterricht zu sprechen, der zehn oder mehr Jahre zurücklag, dann war Gelerntes dürftig, aber die Lehrperson erstaunlich präsent – und sei es nur, weil man sie damals gerne geärgert hat!

Für wen gehst du? Lesen Sie auf diesem Hintergrund wieder einmal in den Briefen des Apostels Paulus. Wie kaum ein anderer musste dieser Gesetzeslehrer bitter erfahren, dass die Berührung des lebendigen Gottes brennt. Er musste Entbehrungen und Nöte, Verspottung und Verfolgung erleben bis er schreiben konnte: „Wir verkündigen nämlich nicht uns selbst, sondern Jesus Christus als den Herrn, uns aber als eure Knechte um Jesu willen“ (2Kor 4,5).

Ich wünsche Ihnen ein fruchtbares Schuljahr, in dem immer wieder Glaube, Hoffnung und Liebe blühen. Lassen Sie sich vom Diener Rabbi Naftalis erinnern. Vertrauen Sie wie der Apostel Paulus: „Meine Gnade genügt dir; denn sie erweist ihre Kraft in der Schwachheit“ (2 Kor 12,9).

Vor jeglichem Lernstoff fragen Sie die Schüler/innen: Für wen gehst du?